Corona-Auflagen treffen Behinderte hart: Ethikinitiative befürchtet Rückschlag der Inklusion in Behindertenwerkstätten

Herr Künkel, Sie sind Mitglied einer Ethik-Initiative, die beklagt, dass Menschen mit Handicaps in der Corona-Krise völlig hinten herunterfallen. Wie sieht die Lage aus? Inzwischen sieht sie ein wenig besser aus. Aber der Eindruck ist vorherrschend für die Behinderten, für die Behindertenorganisationen und die Initiativgruppen, dass die Menschen mit Handicaps völlig unter dem Radar gelaufen sind. Sie sind in den Erlassen, Verlautbarungen und Verordnungen schlicht nicht vorgekommen oder aber sie wurden gleichgestellt mit Altenheimbewohnern. Man hat überhaupt nicht gesehen, dass Behinderung ein ungeheuer weites und differenziert zu betrachtendes Feld ist. Der Eindruck bei den Behinderten hat sich festgesetzt: Wir sind nicht im Fokus, uns beachtet man nicht – so, als wären wir gar nicht da. Es ist zu befürchten, dass sämtliche Inklusionsbemühungen in Deutschland um Jahre zurückgefallen sind. Können Sie ein Beispiel nennen? Man hat bei den Senioren, die zu den Risikogruppen zählen, einfach gesagt: Alle Wohnheime müssen geschlossen werden, und es gab ein Betretungsverbot. Darunter fielen automatisch auch die Wohnheime für Menschen mit Behinderungen. Die wurden ganz einfach festgesetzt, ja eingeschlossen, obwohl sie sich sonst mehr oder minder draußen frei bewegen können. Da ist es den Einrichtungen sehr schwer gefallen, dies ihren Klienten zu vermitteln. Sie sagten, Corona werfe alle Bemühungen um Jahre zurück. Wieso? Nehmen Sie die Behindertenwerkstätten. Die haben über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass Behinderte arbeiten konnten. Das Betretungsverbot hat dazu geführt, dass sie zu Hause bleiben mussten und etwa 30 Prozent von denen, die an diese Arbeit herangeführt worden sind, nach dem Lockdown nicht wieder zu ihrer Arbeit zurückkamen. So habe ich es etwa von den Harz-Weser-Werken gehört, die 1800 Beschäftigte haben. Da sind 30 Prozent nicht zurückgekehrt – manche natürlich auch, weil sie Infektionen befürchten. Christoph Künkel war von 2009 bis 2017 der Chef des Diakonischen Werkes der hannoverschen Landeskirche. Der promovierte evangelische Theologe war zuvor Superintendent in Hittfeld. Der 63-Jährige gilt als Sozialexperte und arbeitet ehrenamtlich in der Ethik-Initiative mit, die eine Gruppe von Persönlicheiten um Ärztekammerpräsidentin Martina Wenker, den Philosophen Jürgen Manemann und die Landtagsabgeordnete Thela Wernstedt im Jahr 2020 gegründet haben. Ziel der Initiative ist es, bei den schwierigen Entscheidungen der Corona-Zeit ethischen Rat zu leisten – und Sachverstand einzubringen. Das heißt: Viele Menschen mit Handicaps sind jetzt arbeitslos geworden? Das hat zwar keine unmittelbaren materiellen Folgen, aber doch schwere für den mühsamen Prozess der Eingliederung. Inklusion heißt Eingliederung in ein halbwegs normales Leben. Der ist für viele Menschen massiv unterbrochen worden. Man muss gleichsam den gesamten Prozess, diese Menschen an die Arbeit heranzuführen, wieder von vorne beginnen. Frage der Haftung wird zum Totschlagargument: War denn das Betretungsverbot überhaupt notwendig? Viele Betriebe arbeiten auch während des Lockdowns weiter – allerdings unter sehr strengen Abstands- und Hygieneregeln. Hätte man dies nicht auch den Behindertenwerkstätten gestatten müssen? Die anfangs sehr strikten Regeln sind nach berechtigter Kritik etwas gelockert worden, dann schob sich aber wie auch in anderen Bereichen des sozialen Lebens die Haftungsfrage mächtig dazwischen. Den Behinderten-Betrieben wurde gesagt: Ihr haftet, wenn es zu Infektionen kommt. Das wirkt wie ein Totschlag-Argument. Inzwischen hat man die Werkstätten wieder geöffnet, aber die Lage ist sehr differenziert. So gibt es Behinderte, die äußern sich in erster Linie in einer Körpersprache und nicht verbal. Denen sind natürlich Abstandsregeln schwer zu vermitteln. Aber vielen anderen gelingt das sehr wohl. Da ist es bitter, wenn alle in einen Topf geworfen werden. Lesen Sie auch Neue Ethikinitiative fordert mehr Mitsprache von Bürgern bei Corona-Schutzmaßnahmen Wie kann die Lage von Behinderten während der Corona-Zeit verbessert werden? Zunächst einmal dadurch, dass man sie überhaupt in den Blick nimmt. Dass man sie etwa bei der Frage, wer bei den Impfungen priorisiert wird, nicht vergisst. Das ist jetzt Gott sei Dank korrigiert worden. Sie sind jetzt meistens in der Kategorie zwei, obwohl einige auch zu den Hochrisikogefährdeten zählen. Menschen, die etwa halbabwärts querschnittsgelähmt sind, dürfen gar nicht in die Situation geraten, dass sie auf eine Intensivstation kommen. Da muss man sehr genau zu Einzelfallentscheidungen kommen – was aber seit dem 29. Januar auch geschehen soll. Wir hoffen nun sehr, dass diese Bundesentscheidung auch Anwendung findet. Von Michael B. Berger