Landleben in Niedersachsen: Wie Dorfmoderatoren ihre Dörfer beleben

,,Jedes Dorf hat seinen Schatz“, sagt Claudia Mehl. Stolz präsentiert die Dorfmoderatorin einen bunten Bauwagen, in dem sich Bücher und Spiele finden und der ein neuer beliebter Treffpunkt für Jung und Alt in Hahausen am Harz ist. Nachbarn haben ihn aufgestellt und eingerichtet, mehrere Familien kümmern sich und verwahren abwechselnd den Schlüssel. Auch Mehl, von Beruf Industriekauffrau, ist ehrenamtlich dabei. Als Dorfmoderatorin hat sie die Idee vorangetrieben. Die 45-Jährige lobt das Miteinander im Dorf als einen besonderen „Schatz“. Alteingesessene und Zugezogene würden gemeinsam anpacken, um den Ort nach vorn zu bringen. Als eins von 16 Dörfern hat sich Hahausen am Modell Dorfmoderation Südniedersachsen beteiligt. „Dorf ist nicht gleich Dorf“: ,,Dorf ist nicht gleich Dorf“ – so ist das vom Landwirtschaftsministerium unterstützte Projekt überschrieben. Ortschaften in den Landkreisen Goslar und Holzminden, Northeim und Göttingen haben sich daran beteiligt. Viele der dörflichen Probleme indes ähneln sich: von fehlenden Einkaufsmöglichkeiten über schlechte Busverbindungen bis zum Ärztemangel. In Hahausen lebten vor zwanzig Jahren fast 1000 Menschen, 750 sind es zurzeit. Zwar zieht es seit Corona wieder verstärkt Leute aufs Land, wo sie Platz und Ruhe, Luft und Grün finden und im Homeoffice arbeiten können. „Wir haben jetzt wieder viele Familien, die sich entschieden haben, hier zu bauen“, berichtet Mehl. Doch bis sich die Entwicklung in Zahlen ausdrückt, wird es dauern. Etlichen Ortschaften im südlichen Zipfel Niedersachsens geht es so. Auch deshalb hat das Land diese Region ausgewählt, um zu gucken, wie die Bewohner wieder mehr Leben in ihre Dörfer bringen können. Wissenschaftler der Universität und der Hochschule HAWK in Göttingen haben die Dorfmoderation begleitet und nun eine positive Bilanz vorgelegt. Es ist eine vorläufige Bilanz, denn die Ehrenamtlichen, die in Teams meist zu zweit oder dritt arbeiten, wollen weitermachen. Sie wollen auch Menschen in anderen Landesteilen ein Beispiel geben. „Beeindruckend, was da schon jetzt an Ideen verwirklicht wurde“, sagt Dorfforscherin Swantje Eigner-Thiel von der HAWK. Beispiele seien außer neuen Treffpunkten etwa ein Mittagstischangebot, ein Carsharing-Modell oder auch regelmäßige Wanderungen und Radtouren, bei denen Jung und Alt ins Gespräch kommen. Lesen Sie auch: Hier werden in der Region Häuser für Familien gebaut In Klein Schneen in der Gemeinde Friedland bereitet sich Dorfmoderator Rolf Gruschinski auf eine Videokonferenz mit Kollegen in anderen Ortschaften vor. „Wir informieren uns immer gegenseitig über unsere Projekte“, erzählt der 67-Jährige. So braucht niemand das Rad neu zu erfinden. Dazu trägt außer regelmäßigen Besprechungen auch eine Zeitung bei, an der er mitarbeitet. In Klein Schneen haben die Dorfmoderatoren zuletzt mit großer Resonanz ein „Corona-Hilfspaket“ geschnürt. Dabei haben sie Älteren Impftermine vermittelt und sie auch zum Impfzentrum nach Göttingen gebracht. Auch sonst fahren Ehrenamtliche bei Bedarf Menschen zum Arzt oder kaufen für sie ein. „Uns gehen die Ideen nicht aus“, sagt Gruschinski. Im Ruhestand habe er auch Zeit, sagt der frühere Verwaltungsangestellte. „Aber der Tag könnte 48 Stunden haben.“ Boulebahn und Bienenwiese: In Sievershausen am Rand des Sollings nimmt am selben Tag Kerstin Pohl auf einer rot lackierten Bank Platz und kommt ins Gespräch mit Rainer Koch. Die beiden haben gemeinsam die Dorfmoderation in dem 1200-Einwohner-Dorf im Kreis Northeim übernommen. Beide sind vielfältig engagiert und haben nicht lange überlegen müssen. „Ich möchte hier alt werden“, sagt Pohl. „Wir wollen das Dorf lebenswert erhalten.“ Mitstreiter Koch spricht von einer „Erfolgs-Story“, zu der auch die Bank gehört. Vier Mitfahrbänke haben Männer aus Sievershausen im Dorf aufgebaut, zwei im fünf Kilometer entfernten Einkaufsort Dassel. Dort kann sich hinsetzen, wer eine Mitfahrgelegenheit braucht. Doch das ist nur eine von vielen Ideen gewesen. In der früheren Post im Gebäude der Volksbank haben Ehrenamtliche eine „Dorfstube“ eingerichtet. Andere legten eine Blühwiese für Bienen an. Langwieriger war der Abriss eines ungenutzten Hauses im Ortskern. Dort entsteht jetzt eine Boulebahn. Das Modell Dorfmoderation macht über Südniedersachsen hinaus Schule. Inzwischen finden sich solche ehrenamtlichen dörflichen Ideenvermittler unter anderem in den Landkreisen Nienburg, Rotenburg, Osnabrück, Cloppenburg, und Stade. Dorfmoderatoren sind auch Teil des vom niedersächsischen Landwirtschaftsministerium geförderten Projekts „Soziale Dorfentwicklung“. In der Region Hannover nimmt Lehrte mit den Ortsteilen Immensen, Arpke und Sievershausen an diesem Projekt teil. Der Verbund legt den Fokus auf das gesellschaftliche Miteinander und eine zukunftsfähige Dorfentwicklung. Insgesamt machen elf niedersächsische Regionen bei „Soziale Dorfentwicklung“ mit– unter anderem im Emsland, in den Kreisen Aurich, Lüneburg und Wolfenbüttel. Das niedersächsische Sozialministerium wiederum bildet darüber hinaus Engagementlotsen aus. Diese wiederum setzen sich auch in Städten für das gemeinschaftliche Leben ein. Koch hat die Baustelle gerade noch einmal angesehen und eine kleine Korrektur angeregt. „Das Konzept Dorfmoderation ist ausgesprochen sinnvoll“, sagt der ehemalige Bankdirektor, der seit einigen Jahren eine Senfmühle betreibt. Um das Modell weiter zu befördern, hat Koch sogar einen Landesverband für die mittlerweile rund 100 niedersächsischen Dorfmoderatoren und weitere ehrenamtlich Engagierte gegründet. Probleme, so berichten mehrere Beteiligte, gibt es gelegentlich mit Vereinen oder mit Ortsräten – und das obwohl einzelne Bürgermeisterinnen und Bürgermeister selbst einen Teil der Moderation übernommen haben. Dabei sehen sich die Dorfmoderatoren nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung der gewählten Vertreter. Doch während letztere oft an bestimmte Interessen gebunden sind, sollen die Moderatoren vermitteln und motivieren. Zur Moderation haben sie sich in der Regel bei Bürgerversammlungen in den Dörfern gemeldet. „Ihre Rolle ist es, neutral zu sein,“ sagt Wissenschaftlerin Eigner-Thiel. „Sie legitimieren sich durch ihre Taten.“ Das ist den Ehrenamtlichen bisher nach Einschätzung der Landkreise hervorragend gelungen. Der Goslarer Landrat Thomas Brych sagt: „Sie gehen auf die Menschen im Dorf zu, initiieren Ideen, bringen Menschen zusammen. “ So haben sich die vier Kreise denn auch nach dem Auslaufen des Landesprojektes entschieden, die Dorfmoderation weiter mit Eigenmitteln zu unterstützen. Eine Koordinatorin in Göttingen soll sich nun darum kümmern, dass die Arbeit weitergeht. Das Projekt habe das Leben auf dem Dorf attraktiver gemacht“; sagt Landrat Brych. „Die Dörfer müssen sich nicht verstecken.“ Von Gabriele Schulte