Wenn sich erwachsene Menschen in Gorillakostüme zwängen und zwischen Dixie-Klos einer Banane auf zwei Beinen hinterherjagen, wenn frischgebackene Abiturienten auf dem Campingplatz lange Plastikplanenbahnen mit Duschgel präparieren, um darauf in Unterhose um die Wette zu rutschen, dann ist wieder „Hurricane“. Etwa 70.000 Besucher sind zur 15. Auflage des größten Rockfestivals Norddeutschlands nach Scheeßel gekommen.
Viele von ihnen feiern am Freitag in der Nachmittagssonne mit Guy Garvey, dem Sänger und Gitarristen der Britpopper Elbow: Hinter ihm sitzt ein Streichersatz, rechts und links neben der Bühne recken aufblasbare, blaue Puppen ihre Schlaucharme in die Höhe, und mittendrin dirigiert der Kritikerliebling die Hände des Publikums zum satten Sound von „Open Arms“ hin und her. Bei „One Day Like This“ steigt Garvey in den Graben vor der Absperrung, lässt sich Digitalkameras aus dem Publikum reichen und schießt ein paar Erinnerungsfotos von einem gelungenen Konzert.
So viel Nähe zum Publikum wäre Beth Gibbons von Portishead sicher suspekt. Mit geschlossenen Augen hält sie sich am Mikrofon fest und singt das tieftraurige „The Rip“. Das Publikum schweigt und leidet mit, fasziniert von einem so intensiven, intimen Konzerterlebnis. 1994 hat die Band mit ihrem Debüt „Dummy“ nicht nur einen unverwechselbaren Melancholiesoundtrack geprägt, sondern gleich ein ganzes Genre dazu: Trip-Hop. Die verschleppten Beats, die Scratch-Samples und der verhuschte Gesang von Songs wie „Wandering Stars“ haben 17 Jahre später noch Bestand, reihen sich nahtlos neben Titeln des Comeback-Albums „Third“ ein.
Die Trip-Hop-Pioniere sind nicht die einzigen alten Helden, die es beim „Hurricane“ zu besichtigen gibt: Die Emo-Fraktion darf sich über Jimmy Eat World freuen, die alten Britpopper über Suede, wer es elektronischer mag, erkennt im Chemical-Brothers-DJ-Set Rudimente von „Hey Boy Hey Girl“ und „Galvanize“ wieder, und offenbar unkaputtbare Rockbands wie Monster Magnet, Incubus und Foo Fighters lassen es mal wieder krachen.
Weil deren ebenfalls in die Jahre gekommenen Fans wenig Lust auf Drei-Tage-wach-Durchfeierei auf dem Campingplatz haben, gibt es erstmals einen eigenen „grünen“ Zeltplatz. Hier wird artig Müll wegsortiert, und die Musik aus Gettoblastern ist nicht bis zum Anschlag aufgedreht.
Die Party findet woanders statt: zum Beispiel bei Arcade Fire, der spektakulärsten Band des „Hurricane“. War das Kollektiv um Win Butler vor vier Jahren noch fürs Vorbandprogramm gebucht, haben sie – der Grammy-Auszeichnung sei Dank – diesmal den begehrtesten Slot ergattert. Nach dem fulminanten „Ready to Start“ vom aktuellen Album „The Suburbs“ tauschen die acht Avantgarde-Musiker die Instrumente durch, Drehleiher und Geigen, Gitarre und Schlagzeug wechseln ihren Besitzer. Voller Inbrunst singt Win Butler vom Aufwachsen in der Vorstadt. Das sakrale „Intervention“ gerät zum Open-Air-Gottesdienst für religiös Unbehauste.
Wer etwas ähnlich Spektakuläres sehen will, kommt an der Zeltbühne bei Lykke Li auf seine Kosten – vorausgesetzt, er reiht sich zeitig in die Warteschlange ein. Durchhaltevermögen brauchen die Besucher auch am regnerischen Sonntag. Die meisten bleiben bis zum Abend und feiern mit Arctic Monkeys und Foo Fighters den Abschluss eines feuchtfröhlichen Festivalwochenendes. Ohne große Neuentdeckungen. Und mit vielen alten Bekannten.