Stephan Weil fordert effektivere Corona-App mit weniger Datenschutz

Herr Ministerpräsident Weil, viele Bürgerinnen und Bürger fragen sich, warum bereits in den USA und in Großbritannien Corona-Impfungen verabreicht werden, nicht jedoch in Europa. Teilen Sie den Ärger vieler Menschen hierzulande? Und ob. Dass in vielen Teilen der Welt mit den Impfungen bereits begonnen wurde, nicht aber in Europa, ist schwer zu begreifen. Wir reden über den selben Impfstoff. Ich glaube nicht, dass in Europa die Prüfungen so viel tiefgehender sind als in anderen Teilen der Welt. Der Zeitdruck ist ohne Zweifel da, die Forscher haben sich enorm angestrengt, geeignete Impfstoffe zu entwickeln. Heute kam nun endlich die gute Nachricht, dass die europäische Arzneimittelbehörde EMA am 21. Dezember ihr Gutachten über die Zulassung des Corona-Impfstoffs von Biontech und Pfizer vorlegen will. Ich hoffe, dass es jetzt sehr schnell ein Go geben wird für den Beginn der Impfungen. Sobald der Impfstoff da ist, werden wir in Niedersachsen loslegen. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Zulassungsverfahren in der EU so lange brauchen? Liegt es an der Bürokratie? Ich bin kein Impfexperte, frage mich aber, warum Unternehmen, die in unterschiedlichen Teilen der Welt mehr oder weniger zum gleichen Zeitpunkt ihre Zulassungsanträge mit mehr oder weniger den gleichen Unterlagen stellen, zu höchst unterschiedlichen Zeitpunkten ihre Zulassung erhalten. Ich habe auch noch nicht gehört, dass es bei der EMA grundsätzliche Zweifel geben würde, das die Impfstoffe zulassungsfähig sind. Es wäre am Ende dieses schweren Jahres wirklich gut, wenn wir mit den ersten Impfungen einen Hoffnungsschimmer erleben könnten. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es bald losgehen kann. Sie sind auch unzufrieden mit der Corona-App. Steht der Datenschutz dem Gesundheitsschutz im Weg? Das ist derzeit leider so. Und ich verstehe nicht, warum wir uns nicht einen Ruck geben und einige datenschutzrechtliche Hürden aus dem Weg räumen. Wir greifen allmonatlich aus zwingenden Gründen tief in viele Grundrechte ein. Dass es in Zeiten der Pandemie nicht vertretbar sein soll, zu einem vernünftigen, automatisierten Austausch wichtiger Daten über die Corona App zu kommen, ist mir völlig unbegreiflich. Woran hakt es? Es hakt daran, dass es bislang ins freie Belieben der Bürgerinnen und Bürger gestellt ist, ob sie der App mitteilen, dass sie infiziert sind. Nur dann aber können etwaige Kontaktpersonen informiert werden und sich testen lassen und in Quarantäne begeben. Würde eine nachgewiesene Corona-Infektion von den Gesundheitsämtern automatisch an die Betreiber der Corona-App weitergeleitet, könnten über die App dann automatisch alle Kontaktpersonen informiert werden. Und ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Die App sollte in die Lage versetzt werden, Nutzerinnen und Nutzern auch den ungefähren Ort und die ungefähre Zeit einer Begegnung mit einer infizierten Person mitzuteilen. Nur dann könnten die Menschen daraus lernen und ihr zukünftiges Verhalten ändern, also beispielsweise vom Bus aufs Fahrrad umsteigen. Wir brauchen einen pragmatischen Umgang mit dem Datenschutz. In Ländern, in denen Datenschutz nicht über allem steht, kann effektiver gegen die Corona-Epidemie vorgegangen werden. Nehmen wir uns ein Beispiel an Südkorea – auch eine Demokratie, auch ein Rechtsstaat – aber erfolgreicher in der Bekämpfung der Pandemie als wir. Was müsste geschehen? In einem ersten Schritt könnte man die Nutzerinnen und Nutzer der Corona-App selbst in den Voreinstellungen darüber entscheiden lassen, welche Daten sie teilen wollen, um andere Personen vor einer möglichen Infektion zu warnen. Eine großzügige Datenfreigabe wäre dann auch eine Form der Solidarität mit älteren oder vorerkrankten, Menschen, die durch das Virus besonders gefährdet sind. Wer zum Wohl anderer mehr Informationen von sich preisgeben würde, würde so einen wichtigen Betrag dafür leisten, dass unsere Gesellschaft besser durch die nächsten Monate kommt. Noch effektiver wären gesetzliche Regeln, die die Datenfreigabe generell legitimieren würden. Ich halte grundsätzlich viel von der Corona App, aber wir könnten ihre Wirkmacht zu unser aller Vorteil deutlich vergrößern. Lesen Sie auch: Niedrigere Zahlen, schärfere Maßnahmen: So war der Lockdown im Frühjahr – und so wird er jetzt Von Michael B. Berger