Aus dem Ghetto geschmuggelt: Tswi Herschel erzählt seine Geschichte

Nach der Geburt hat Vater Nico Louis Herschel für seinen Sohn einen Lebenskalender gezeichnet, ein einzigartiges Dokument, bestehend aus 24 Bildern. Sie sind eine Lebensvision und zeigen einen Lebensweg, so wie der Vater sich es für seinen Sohn vorgestellt und gewünscht hatte. Nach sechs Monaten, so steht auf einem Bild zu lesen, wächst der kleine Tswi Josef Herschel auf. Die Realität könnte schlimmer nicht sein: „Nach sechs Monaten war ich Waise.“ Seine Eltern hat er nie kennengelernt - sie starben in Sobibor: Tswi Herschel wurde 1942 im holländischen Zwolle geboren und durfte seinen Vater Nico und seine Mutter Ammy nie kennenlernen. Sie hatten ein Jahr zuvor geheiratet, als das Leben für Juden in den Niederlanden schon alles andere als sicher war. Über das Ghetto in Amsterdam wurde das Ehepaar in das Konzentrationslager Westerbork und von dort in das Vernichtungslager Sobibor gebracht. Bei ihrer Ankunft wurden sie am 27. Juli 1943 sofort vergast. Sein Vater wurde 27 Jahre, seine Muter 24 Jahre alt. So wurde das Baby gerettet: Im sicheren Wissen, dass ihr Weg von Amsterdam in den sicheren Tod führen werde, hatten seine Eltern zuvor den viermonatigen Tswi Herschel einem nicht-jüdischen Paar anvertraut; in der Hoffnung, dass er so der Vernichtung entgehe und gerettet werde. Er wurde von einer Frau und ihrer 17-jährigen Tochter, die ihn in den Arm nahm und sich als seine junge Mutter ausgab, aus dem Ghetto geschmuggelt und gerettet. Detailliert berichtet Herschel auf Einladung der „Initiativgruppe Stolpersteine“ im Stiftssaal vor den IGS-Schülern der zehnten Klassen vom Leben der Juden in den Niederlanden seit der deutschen Besatzung 1940 im Allgemeinen und von seinen Eltern im Besonderen. Schon 1941 wurde das Stadtviertel „Jodenbuurt“ in Amsterdam von den Nationalsozialisten zum Ghetto erklärt und stetig wachsenden Einschränkungen unterworfen, die Juden durften keine öffentlichen Einrichtungen mehr besuchen oder benutzen, kein Café, kein Kino, kein Schwimmbad. Als Junge ahnt Herschel jahrelang nichts von seiner jüdischen Identität: Am 10. Januar 1941 mussten sich alle jüdischen Bürger registrieren lassen, ab Mitte 1942 durften sie nicht mehr telefonieren und keine nichtjüdischen Personen besuchen, Autofahren für Juden wurde im Oktober verboten. Die befreundete Familie gab dem kleinen Tswi den holländischen Namen Henk und zog ihn als eigenes Kind groß. „Henk“ ahnte nichts von seiner jüdischen Identität. Stadthagen gedenkt am Montag der Auschwitz-Befreiung Auschwitz-Überlebende beeindruckt Zuhörer in Bad Nenndorf Gedenken an vertriebene Juden: Lauenau kriegt vier weitere Stolpersteine Kinder-Euthanasie und Medikamentenversuche: Hilde Winkelmann packt über eigene Familie aus Nach dem Krieg, als jüdischer Junge von dreieinhalb Jahren, wurde er seinen Pflegeeltern von seiner biologischen Großmutter entrissen, „von diesem Moment an veränderte sich mein Leben“. Denn seine Großmutter brach jeden Kontakt mit der Familie ab, die ihn gerettet hatte. Sie änderte seinen Namen und er wurde gezwungen, eine andere und für ihn „fremde“ Religion anzunehmen. Herschel will kein Opfer sein: Im Alter von acht Jahren hat Tswi Herschel die Zeichnungen seines Vaters und andere Unterlagen bei seiner Großmutter entdeckt und so erfahren, dass er Waise ist. Der kleine Junge begann zu fragen. Dieser traumatische Beginn habe sein ganzes Leben geprägt, sagt er heute. Und trotzdem sei seine Haltung zum Leben, kein Opfer sein zu wollen. Aber es sei nicht immer einfach gewesen, sich in der antisemitischen Gesellschaft der Nachkriegszeit als Jude zurechtzufinden und Verständnis für ein Kriegswaisenkind habe es zudem nicht gegeben. Als Henk habe er niemals eine Form von Ausgrenzung erfahren, aber als Tswi den zunehmenden Antisemitismus in den Nachkriegsniederlanden ganz persönlich erlebt. Er folgt einem Wunsch seines Vaters nach Israel: Er gründete ein Unternehmen, verkaufte es und emigrierte 1986 mit seiner Familie nach Israel, ganz wie sein Vater es sich in seinem „Lebenskalender“ für ihn gewünscht hatte. In den Folgejahren widmete er sich zunehmend der Versöhnungsarbeit; ein Botschafter der Geschichte, der eine bewegende Lebensgeschichte zu erzählen hat. Heute hat er zwei Töchter und einen Enkel, der am 27. Juli 2002 geboren wurde; auf den Tag genau 59 Jahre nachdem seine Eltern im KZ Westerbork ermordet wurden. Er spricht viel und öffentlich über sein Leben: „Ich möchte die Erinnerung an meine Eltern und an die sechs Millionen ermordeten Juden wach halten und hoffe, dass die Jugendlichen aus meiner Geschichte lernen“, sagt er. Das Wissen über den Holocaust nimmt ab - umso wichtiger sind solche Reden: Seine Reden vor den Schülern in Obernkirchen und an anderen Orten waren vielleicht nie so wichtig wie heute, denn das Wissen über den Holocaust nimmt ab. Laut einer Studie der Körber-Stiftung aus dem Herbst 2017 wussten 40 Prozent aller deutschen Schüler unter 14 Jahren nicht, dass Auschwitz ein Vernichtungslager war. Unter den 14- bis 29-Jährigen waren es noch 22 Prozent. Und einer CNN-Studie von 2018 zufolge hatten fünf Prozent der 18- bis 34-Jährigen in Deutschland noch nie vom Holocaust gehört. von Frank Westermann

Holocaust-Überlebender - Aus dem Ghetto geschmuggelt: Tswi Herschel erzählt seine Geschichte