Unterricht auf dem Atlantik

Das hat das segelnde Klassenzimmer verändert

Da wird Mathe und Physik lebendig: Die Schüler haben an Deck der „Roald Amundsen“ auch Unterricht. 

Da wird Mathe und Physik lebendig: Die Schüler haben an Deck der „Roald Amundsen“ auch Unterricht.

Spiekeroog. 13.000 Seemeilen mit Atlantiküberquerung in 190 Tagen. 30 Mädchen und Jungen auf  dem Traditionssegler „Roald Amundsen“. Die Schulklasse, zusammengeschweißt durch gemeinsame Arbeit und Abenteuer, hat bis zur Rückkehr nur noch wenige Stunden. Die Zeit reicht, die Eltern im Internetblog von Bord vorzuwarnen, dass sie andere Töchter und Söhne zurückbekommen werden, als sie Mitte Oktober am Kai verabschiedet haben. „Wir fragen uns, wie wird es dann? Ich bin nicht mehr derselbe Mann“, heißt es in einem Gedicht, das Schüler an Bord gemeinsam verfasst haben.

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Seit 25 Jahren organisiert die Lietz-Schule auf Spiekeroog die „High Seas High School“. Der damalige Leiter des Internats hatte sich den ungewöhnlichen Lernort ausgedacht – im Sinne des Schulmottos: Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Der Weg der Brigg führt über Frankreich, Portugal und einen Zwischenstopp auf den Kanaren über den Atlantik, in die Karibik nach Panama, Costa Rica, Kuba und die Bahamas, dann über England zurück nach Norddeutschland.

Mit von der Partie ist Freya von der Insel Spiekeroog. Stellvertretend für ihre Mitschüler berichtet die 15-Jährige begeistert im Blog, dass sie von der Reise sehr profitiert habe. „Wir haben gelernt, ohne all die Dinge, die wir sonst so selbstverständlich haben, klarzukommen – das ist viel wert!“

Selbst der Enge, die ihr anfangs zu schaffen machte, könne sie nun Gutes abgewinnen: „Zu viert oder sechst in Kammern, die kleiner als unsere Einzelzimmer zuhause sind – da haben wir gelernt, unsere Ansprüche an Privatsphäre deutlich zu reduzieren.“ Auch die aus China stammende Yuansu erzählt, die Reise habe ihr geholfen, sich nun besser auf eine Gemeinschaft einlassen zu können. „Manchmal bin ich aber auf den Mast geklettert, um meine Ruhe zu haben.“

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Bevor die „Roald Amundsen“ heute Wilhelmshaven erreicht, kommen ihr ehemalige Teilnehmer schon entgegen. Der 17-Jährige Carlo ist mit Schulkameraden des Hermann-Lietz-Internats auf der Jade unterwegs. „Wir sehen sie schon an Deck, in 300 Meter Entfernung“, ruft Carlo voll Vorfreude – und bricht vor dem nächsten Manöver das Telefonat schleunigst ab. Vor einem Jahr gehörte Carlo selbst zu den Teilnehmern. Entsprechend gut kann er die Aufregung der zwölf Mädchen und 18 Jungen an Bord nachvollziehen, die heute ihre Familien und Freunde in die Arme schließen werden. Er selbst habe bei der Reise gelernt, Verantwortung zu übernehmen, Gefahren einzuschätzen – und die Erkenntnis, „dass Materielles keine Voraussetzung für Lebensfreude ist“.

Sieben Stunden Unterricht

Auch diesmal waren wieder vier Schüler des Hermann-Lietz-Internats Teil der Crew, außerdem Gymnasiasten aus Hamburg, Bremen und anderen Regionen bis hin nach  Murnau am Staffelsee. Greta, Milena, Janik, Max und die anderen sind Mitte Oktober gemeinsam mit drei Lehrerinnen, einem Lehrer und einer segelerfahrenen Stamm-Crew in Kiel an Bord gegangen. Sie haben die Seekrankheit der ersten Tage oder auch Wochen zu überwinden gehabt. „Das war hart bei zehn Meter hohen Wellen in der Biscaya“, erinnert sich auf Spiekeroog Abiturient Jona, der vor zwei Jahren dabei war. „Aber danach bin ich nie wieder seekrank geworden.“

An Bord warteten neben Wachdiensten bei Tag und bei Nacht und sieben Stunden Schulunterricht am Tag auch Aufgaben rund um die Küche: Backen und Berge von Geschirr spülen, Tische abwischen, die Kombüse wienern. „Das funktioniert nur, wenn jeder anpackt“, sagt Jona. „Einmal bin ich nachts um drei von einem Mitschüler aus der Koje geholt worden, weil ich nachmittags vergessen hatte, das Mehl für die Brötchen bereitzustellen.“ Das sei eine lehrreiche Erfahrung fürs Leben gewesen.

Positiv ausgewirkt habe sich auch die Art des Lernens: Beim Unterricht an Bord wird projektbezogen gearbeitet, nicht zuletzt zum Thema Meer. Mathematik und Physik werden beim Segeln und Navigieren lebendig. Bei den Landgängen erfahren die Schüler unter anderem in Erdkunde konkret, wie sich der Regenwald verhält und anfühlt. Insgesamt vier Wochen gehen die jungen Segler in Mittelamerika an Land.

Bei eigentlich allen verändert sich viel mehr als die Zahl der Lebensjahre, wie Projektleiterin Charlotte Winkelmann auf Spiekeroog sagt. Immer wieder erzählten Eltern ihr anschließend: „Ich habe einen Jungen abgegeben und einen Kerl zurückbekommen.“ Lehrer berichteten, viele Schüler seien nach der Seereise mit mehr Schwung an die Arbeit gegangen.

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Das erzählt auch Jona von sich, der nach der Segeltour vor zwei Jahren im Internat problemlos in die elfte Klasse wechseln konnte: „Ich bin seitdem in der Schule viel motivierter.“ Bei aller Begeisterung, sagt der 18-Jährige, bedauere er zurzeit nur eins: Dass er wegen seiner Abiklausuren die Rückkehrer diesmal nicht in Wilhelmshaven begrüßen kann.

Willkommensfest in Wilhelmshaven

Der Traditionssegler „Roald Amundsen“ wird heute gegen 14.30 Uhr mit der Schülercrew an Bord zurück in Wilhelmshaven erwartet. Danach ist eine Begrüßungsfeier geplant. Von  16.45 Uhr an können sich Besucher beim sogenannten Open Ship einen Eindruck von dem Segler verschaffen. Florian Fock, Leiter der Hermann-Lietz-Schule Spiekeroog, und weitere Mitarbeiter des Projekts „High Seas High School" sind vor Ort.

 

Die Segelreise wird seit 1993 jeweils von Oktober bis April oder Mai für Schülerinnen und Schüler der 10. und 11. Klassen angeboten. Die Teilnahme ist mit 23.800 Euro zuzüglich Ausrüstung und Taschengeld recht kostspielig. Jedes Jahr segeln drei oder vier Schüler des Spiekerooger Internats mit bis zu 26 externen Gymnasiasten aus anderen Regionen über den Atlantik, einschließlich rund sechs Wochen Landgängen in Mittelamerika, Kuba und auf den Kanaren. Vom 26. Mai bis 2. Juni findet der nächste Probetörn auf der Ostsee statt. 

 

Von Gabriele Schulte

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