Ex-Krankenpfleger Niels Högel gesteht Patientenmorde
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Mit einer Schweigeminute hat der Prozess begonnen.
© Quelle: dpa
Oldenburg. Der neue Prozess gegen den Klinikmörder Niels Högel vor dem Landgericht Oldenburg hat am Dienstag mit einer großen Überraschung begonnen. Högel erklärte sich bereit, umfassend auszusagen und räumte die Taten ein. „Treffen die Vorwürfe mehrheitlich zu?“, fragte der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann kurz vor der Mittagspause. „Ja“, antwortete Högel. Im Prozess vor vier Jahren hatte der gebürtige Wilhelmshavener noch weitestgehend geschwiegen.
Die Anklage wirft dem 41-Jährigen vor, zwischen 2000 und 2005 weitere 100 Patienten in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst getötet zu haben. Für sechs Taten war Högel bereits in zwei vorhergehenden Prozessen verurteilt worden – 2015 zu einer lebenslangen Haftstrafe, die er in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg verbüßt.
Angeklagter beantwortete eine Stunde lang Fragen
Högel antwortete insgesamt rund zweieinhalb Stunden lang auf die Fragen von Richter Bührmann und der Nebenkläger-Anwälte. Er schilderte, dass er in der Pfleger-Ausbildung in Wilhelmshaven zum ersten Mal Schmerzmedikamente genommen habe und später davon abhängig geworden sei. Seinen Wechsel nach Oldenburg im Jahr 1999 bezeichnete Högel als Fehler. Er habe zwar das Potential zum Intensivpfleger gehabt, aber die Belastung sei zu groß gewesen. „Ich merkte recht schnell die Anspannung und den Leistungsdruck.“ Auch der Medikamentenmissbrauch und die Trennung von seiner damaligen Freundin hätten ihn belastet, erklärte der Ex-Pfleger. Er sei wütender und reizbarer geworden.
Högel sagte, dass er 1999 auch ein Angebot vom Pius-Krankenhaus in Oldenburg gehabt habe. Im Klinikum Oldenburg habe er zwischen drei Stationen auswählen können und sich für die kardiologische Intensivstation entschieden. Aber da sei die Situation sehr angespannt gewesen, weil Pfleger gefehlt hätten. Er habe trotzdem den Ehrgeiz gehabt, zum harten Kern der „elitären Pflegekräfte“ zu gehören. Die Arbeit mit den Intensivpatienten beschreibt Högel als „entmenschlicht“ und mechanisch, weil die eigentliche Pflege in den Hintergrund gerückt sei. „Es ist ja nicht mal so, dass man das böse meint“, sagte Högel. Und fügte dann etwas kleinlaut hinzu: Gut, bei ihm sei es so gewesen.
Um 12 Uhr unterbrach Richter Bührmann den Prozess für zwei Stunden. Über die einzelnen Mordfälle soll später gesprochen werden. Bührmann fordert Högel auf, bis zum zweiten Prozesstag Ende November die Akten der ersten 30 getöteten Patienten zu lesen.
Der Sprecher der Opfer-Angehörigen, Christian Marbach, zeigte sich überrascht von der Aussagebereitschaft Högels. Damit habe er zu diesem Zeitpunkt nicht gerechnet. „Ich habe die Hoffnung, dass wir damit einen großen Schritt weiter kommen“, sagte Marbach der HAZ. „Wir haben vier Jahre für diesen Prozess gekämpft und erwarten, dass Högel wegen weiterer 100 Morde verurteilt wird.“ Die Stimmung der Angehörigen der 100 Opfer hatte Marbach vor dem Prozess als sehr emotional beschrieben: „Wut, Trauer, sehr viel Anspannung, auf der anderen Seite Erleichterung, dass es endlich losgeht.“
Nach der Mittagspause befragte Richter Bührmann den Angeklagten noch einmal sehr gezielt nach den Vorfällen im Klinikum Oldenburg. Högel hatte im Prozess 2014/15 nur Taten in Delmenhorst zugegeben und mehrfach erklärt, er habe in Oldenburg keine Patienten getötet. „Ich habe damals aus reiner Überzeugung und nicht aus taktischer Lüge gesagt, dass in Oldenburg nichts war“, beteuerte Högel. Er habe diese Ereignisse verdrängt, auch aus Schamgefühl. „Es war nicht existent.“
Bührmann bezweifelte Högels Aussagen. „Das ist für mich natürlich schwierig nachzuvollziehen.“ Es bestehe die Gefahr, dass man demjenigen nicht mehr glaube, der einmal gelogen habe. „Wenn sie in Delmenhorst reinen Tisch machen, welchen Grund haben sie dann, in Oldenburg zu lügen?“ Högel sackte im Laufe des Nachmittags hinter seinem Tisch immer weiter zusammen, besprach sich häufig mit seiner Anwältin. Eine andere Erklärung lieferte er aber nicht.
Bei Fragen von Richter Bührmann nach konkreten Ereignissen wurden Versäumnisse in den Kliniken deutlich. Högel widersprach in vielen Punkten Aussagen von Pflegern und Ärzten im vorhergehenden Prozess – und belastete das Klinik-Personal teilweise schwer. Er habe bei der Arbeit nie etwas von einem Ruf als Todespfleger gehört. „Persönlich hat nie jemand gesagt, lass die Finger von meinen Patienten.“
Bei den Aussagen von Högel wurde aber deutlich, dass es sowohl in Oldenburg als auch in Delmenhorst einen Verdacht gegen den ihn gegeben haben muss. In Oldenburg wurde nach dem mysteriösen Tod eines Patienten durch Kalium eine so genannte Kalium-Konferenz einberufen . „Hatten sie mit dem etwas zu tun?“, fragt Richter Bührmann zum Todesfall. „Ja“ antwortet Högel. „Ich habe damals gedacht, jetzt kommen sie mir auf die Schliche.“ Gesagt habe er in der Konferenz nichts. Die Stimmung zwischen Ärzten und Pflegern sei allgemein schlecht gewesen. Es habe auch viele chirurgische Fehler bei Operationen gegeben.
Konsequenz der Konferenz war zumindest, dass Högel Ende 2001 in die Anästhesie wechselte. Allerdings auf eigenen Wunsch, wie er betonte. Ein Jahr lang tötete er nicht. Zumindest gibt es im Prozess für diesen Zeitraum keinen konkreten Verdachtsfall. Es sei dort nie mit Patienten alleine gewesen, habe keine Möglichkeit gehabt, zu manipulieren, erklärt Högel. Ende 2002 wird der Pfleger mit einem guten Zeugnis weggelobt. Ein Chefarzt habe ihm gesagt, man habe kein Vertrauen mehr. Mehr nicht. Man habe ihm drei Monate Gehalt und Weihnachtsgeld angeboten. „Das Arbeitszeugnis lag schon auf dem Tisch.“
Prozess beginnt mit Schweigeminute
Der Mordprozess in den Weser-Ems-Hallen hatte um kurz nach 9 Uhr mit einer Schweigeminute für die Opfer begonnen. Richter Bührmann kündigte zu Beginn der Verhandlung eine umfassende Aufklärung der Mordvorwürfe an „Wir werden uns bemühen und wir werden mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen.“ An die Angehörigen der Opfer gewandt sagte Bührmann, er wollen ihnen im Verfahren die Unsicherheiten nehmen. „Sie sitzen hier sicher wie auf einem heißen Stuhl mit klopfenden Herzen.“ Dem Angeklagten sicherte der Richter einen fairen, offenen Prozess zu: „Herr Högel, wir kennen uns aus drei Verfahren.“
Anschließend verlas Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann mehr als eine Stunde lang die vier Anklageschriften mit den 100 Mordvorwürfen. Sie nannte Namen, Todesdaten und das jeweilige Medikament, mit dem Högel, die Patienten totgespritzt haben soll. Das jüngste Opfer, Regina P., war erst 34 Jahre alt, das älteste, Sophie S., 96. Der Angeklagte habe die Medikamente ohne ärztliche Anordnung und ohne Indikation verabreicht, sagte Schiereck-Bohlmann bei jedem Fall. „Er hat den Tod zumindest billigend in Kauf genommen.“
Vor den Weser-Ems-Hallen in Oldenburg, die wegen der Prozessgröße als Außenstelle des Landgerichts fungieren, hatten sich bereits zwei Stunden vor Beginn zahlreiche Journalisten und Besucher eingefunden. Im Saal sind rund 120 Plätze für die Nebenkläger reserviert, weitere rund 120 für Besucher und 80 für Journalisten. Es wurden starke Sicherheitsvorkehrungen getroffen.
Wohl größte Mordserie der Nachkriegsgeschichte
Aus Sicht der Ermittler könnte es die größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte sein. Dabei ging es dem Angeklagten laut Staatsanwaltschaft darum, bei den Patienten eine lebensbedrohliche Lage herbeizuführen, um Kollegen durch seine Fähigkeiten bei der Wiederbelebung zu beeindrucken.
Als Högel Ende 2002 von Oldenburg ins Klinikum Delmenhorst wechselte war das nach eigenen Angaben die letzte Chance für einen Neuanfang Doch es dauert nur eine Woche, bis er dort den ersten Patienten tötete. „Sie hätten doch auch denken können, dann höre ich auf?“, fragte Gutachter Konstantin Karyofilis im Prozess. „Dieser Gedanke kam nicht“, antwortete Högel.
Die Fakten zum Fall
Was bedeutet der Prozess für die Hinterbliebenen? Was waren die Motive für die Taten? Wieso kommt die Mordserie erst jetzt vor Gericht? Wir beantworten weitere Fragen zum Verfahren.
Von Marco Seng