Blick in Mastbetriebe

Was bringt es, Schweinen die Ringelschwänze zu kürzen?

In den ersten 24 Stunden des Schweinelebens tut das Kürzen kaum weh. Das Kupieren soll verhindern, dass sich die Tiere gegenseitig anbeißen.

In den ersten 24 Stunden des Schweinelebens tut das Kürzen kaum weh. Das Kupieren soll verhindern, dass sich die Tiere gegenseitig anbeißen.

Steimbke/Reddingen. Es dauert keine drei Sekunden. Philine Diekmann hebt behutsam ein Ferkel aus der Abferkelbucht, hält den kleinen rosigen Körper mit der Linken, fasst den Ringelschwanz mit den Fingern der Rechten. Dann senkt sie den Schwanz auf die rotglühende, V-förmige Klinge des Schneideapparats herab. Schwupp, ist ein Drittel abgeschnitten. Das Ferkel blutet nicht, es quiekt nicht. Es zuckt nicht mal. Es macht überhaupt nichts.

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Bei Christoph Becker tun die Ferkel auch nichts. Beziehungsweise: Sie fegen nur einmal quer durch die Bucht, als die Menschen den Stall betreten, kurz darauf kommen sie wieder näher, neugierig, wer sie da besucht. Eines der Ferkel schnuppert am Schwänzchen eines seiner Geschwister, knabbert ganz kurz daran, lässt wieder los. Das war’s. Nichts passiert. Und so, wie es im Moment aussieht, ist es auch unwahrscheinlich, dass mehr passiert.

In den letzten Jahren, zu Zeiten der rot-grünen Landesregierung, gab es ein Lieblingsprojekt des Grünen-Landwirtschaftsministers Christian Meyer: die Ringelschwanzprämie. Landwirte bekommen Geld, wenn sie ihren Ferkeln nicht die Ringelschwänze kurzschneiden und wenn am Ende des Mastdurchgangs 70 Prozent eines Bestandes immer noch Schwänze haben. Was selten ist: Das Schwänzekürzen ist in Europa der Regelfall.

Überprüfung angekündigt

Drangebliebene Schwänze gelten bei Verbrauchern als süß und vor allem bei Öko-Freunden als Beleg für eine naturnahe und tiergerechte Schweinemast. Doch ganz so einfach ist es nicht. Ließe man die Ringeschwänze nämlich ganz dran, würden sich die Tiere sie oft gegenseitig abbeißen, und das dient nicht dem Tierwohl. Die neue niedersächsische Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast (CDU) hat jedenfalls eine Überprüfung der Prämie angekündigt: Bis Mitte 2018 soll untersucht werden, was das Instrument bringt.

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„Nichts“, sagt Tobias Göckeritz. Mehr noch: „Die Ringelschwanzprämie ist eine Prämie für Tierquälerei.“

Göckeritz ist der Vater von Philine Diekmann, er hat den Hof Weidegut im Moor bei Steimbke im Kreis Nienburg 1986 gekauft, ganz ohne bäuerliche Vorfahren: Er nennt sich selbst einen „Lustbauern“, einen Schweinehalter aus Leidenschaft. 200 Sauen stehen auf dem Weidegut im Stall, dazu ist noch Platz für rund 2500 Ferkel und Mastschweine.

Göckeritz‘ Tochter Philine Diekmann bewirtschaftet den Hof gemeinsam mit ihrem Vater. Sie hat Agraringenieurwesen studiert wie er, in der Bachelorarbeit hat sie ausgearbeitet, wie für sie eine ideale Abferkelbucht aussehen muss, beispielsweise mit unterschiedlichen Temperaturzonen für Ferkel und Sau. Tobias Göckeritz hat diesen Idealstall für seine Tochter gebaut, 48 Buchten, 380000 Euro. Sie steht mittendrin und arbeitet, obwohl sie hochschwanger ist: Sie hat die Leidenschaft ihres Vaters geerbt.

Christoph Becker ist mit demselben Engagement dabei, in etwas anderer Ausprägung. Sein Hof, den der 33-Jährige 2010 vom Vater übernommen hat, steht in Reddingen bei Wietzendorf im Heidekreis. Becker ist kein Biobauer, aber auch kein konventioneller Mäster, er bewegt sich in der Mitte: Er hält seine Tiere unter dem Tierschutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes, hat den Bestand auf 800 Schweine reduziert, um den Tieren mehr Platz zu bieten, 1,1 statt 0,75 Quadratmeter pro Tier, er kastriert die Eber nicht – und die Ringelschwänze bleiben dran.

Probleme auch im Bio-Stall

Warum beißen sich Schweine überhaupt in die Schwänze? Die Ursachen seien „multifaktoriell“ – das Wort benutzen Philine Diekmann und ihre Vater und Christoph Becker gleichermaßen. Stress, zu wenig Abwechslung, zu wenig Platz, all das kann Auslöser sein. Aber auch zu kalte Temperaturen. Oder zu warme Temperaturen. Oder ein Gewitter. Auch im Bio-Stall mit Stroh und Auslauf beißen sich Schweine in die Schwänze.

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Becker sagt, rangniedere Tiere würden ranghöhere manchmal durch Schwanzbeißen provozieren, Philine Diekmann sagt, Schweine seien Allesfresser wie Menschen, würden aber in der Mast zu Vegetariern gemacht und dann extrem auf Blut reagieren. Wenn ein Tier einem anderen den Schwanz blutig beiße, sei oft kein Halten mehr.

Für sie ist es deswegen nur konsequent, die Schwänze zu kupieren, eine Maßnahme des Tierwohls. Manchmal quiekt ein Ferkel schon dabei, aber es ist selten.  Das Kürzen tut kaum weh innerhalb der ersten 24 Stunden des Schweinelebens, es gibt wenig Nerven am Schwanzende, die Wunde ist durch die heiße Klinge sofort verödet. Vater Tobias Göckeritz sagt: „Das ist eine Vorsorgemaßnahme, wie Kinder im Auto im Kindersitz.“

Becker zieht einen anderen Schluss: Er benutzt die Ringelschwanzprämie, um seinen Schweinen mehr zu bieten, Seile, Ketten und Holz als Spielzeug, abgedunkelte Rückzugsräume, Extrafutter. Und mal eine Handvoll Heu, hier etwas Maissilage, dort etwas Stroh. „Abwechslung“, sagte Becker. „Es muss hin und wieder etwas passieren. Schweine sind die intelligentesten Nutztiere, die der Mensch hält.“ Und wenn ein Tier nervös werde, müsse man das eben rechtzeitig erkennen und es aus der Bucht holen, bevor es beißt. Er hält auch Schweine, die nicht so sehr auf Fleischproduktion hin gezüchtet sind, denn: „Das ist wie bei Sportlern. Wer dauernd Höchstleistungen bringen muss, wird eher krank.“

Tobias Göckeritz dagegen schimpft auf die Erfolgsquote von 70 Prozent, die das Land bei der Ringelschwanzprämie vorschreibt, denn das bedeute ja 30 Prozent verletzte Tiere, die jeweils mit Antibiotika behandelt werden müssten: „30 Prozent! Bei uns undenkbar!“ Becker winkt ab: Bei ihm sind es eher 15, manchmal 20 Prozent, und nicht mal die Hälfte aller Bissfälle seien behandlungsbedürftig.

Der Vergleich geht unentschieden aus, mit einem leichten Plus für Christoph Becker. Beide Tierhalter sind engagiert, wollen das Beste für ihre Schweine, suchen den richtigen Weg. Bei Becker wirken die Ferkel etwas lebendiger. „Wenn sie sich freuen und mit dem Schwänzchen wackeln, sieht man, dass alles in Ordnung ist“, sagt er.

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Aber letztlich, weiß auch Becker, ist alles eine Frage des Marktes. „Wenn die Verbraucher das Doppelte fürs Fleisch zahlen würden, würde ich meinen Bestand sofort halbieren“, sagt er. „Und die Tiere hätten allen Platz der Welt.“

95 Prozent aller Ringelschwänze werden kupiert

Pro Schwein, das mit komplettem Ringelschwanz beim Schlachthof ankommt, zahlt das Land 16,50 Euro Ringelschwanzprämie. Im vergangenen Jahr sind nach Auskunft des Landwirtschaftsministeriums Prämien für insgesamt 59.200 Mastschweine ausgezahlt worden. Das ist nicht sehr viel verglichen mit den rund 9 Millionen Schweinen, die in Niedersachsen gehalten werden.

Entgegen der Annahme vieler Kritiker der Prämie waren es aber nicht nur Bio-Bauern, die das Geld kassiert haben: Deren Anteil liegt bei nur rund 20  Prozent.

Für Ringelschwänze und für nicht kupierte Schnäbel bei Legehennen wurden 2017 insgesamt etwa 1,8 Millionen Euro ausgezahlt. Ein intakter Ringelschwanz gilt laut Landwirtschaftsministerium in Hannover als sicherer Indikator für eine tiergerechte Schweinehaltung.

Die Prämie wirkt auf den ersten Blick dennoch unverständlich. Denn Schwänzekupieren ist in der EU per Verordnung verboten, und auch das Tierschutzgesetz untersagt das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen. Aber es hält sich niemand dran.

95 Prozent aller Schweine in Deutschland wachsen mit gekürzten Schwänzen auf.  Die Landwirte berufen sich auf eine Ausnahmeregelung, die das Kupieren erlaubt, wenn der Eingriff unerlässlich ist. Deswegen wollte die Landesregierung mit der Prämie gegensteuern.

In anderen Ländern, etwa in Norwegen, geht es durchaus auch ohne Schwanzkürzen: Dort ist nach Angaben von Elisabeth große Beilage, Schweine-Expertin der Tierärztlichen Hochschule Hannover, das Kupieren verboten – und die Rate der Schwanzbeißereien liegt bei nur 2 bis 3 Prozent.  

Von Bert Strebe

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