Diskussionen statt Gebrüll: Macht Mastodon das Internet besser?
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Die Apps von Twitter und Mastodon nebeneinander
© Quelle: Andre M. Chang/ZUMA Press Wire/d
Hannover. Am Wochenende war sie dann tatsächlich überschritten, die rote Linie.
Kurz nachdem Elon Musk zahlreiche Journalistinnen und Journalisten von seiner Plattform Twitter gesperrt und dann auch noch das freie Verlinken zu Konkurrenzplattformen eingeschränkt hatte, meldete sich eine ganze Welle von Userinnen und Usern von der Plattform ab – oder ließ ihre Accounts zumindest ruhen.
Ein Verbleib auf Twitter sei mit den eigenen Werten nicht mehr vereinbar, hieß es mitunter in Abschiedsposts. Recherchen von Medien zeigen, dass mit jeder Eskapade des neuen Twitter-Chefs die Zahl der Neuanmeldungen insbesondere auf dem dezentralen Netzwerk Mastodon steigt. Am Wochenende, so macht es den Anschein, erlebte der Twitter-Exodus schließlich eine völlig neue Dimension.
Neue Heimat: Mastodon
Der Zufluchtsort Mastodon ist in seiner Funktionsweise Twitter ganz ähnlich, besteht aber – grob heruntergebrochen – aus einer Vielzahl unterschiedlicher Server, sogenannter Instanzen, die zum Teil von Privatpersonen betrieben werden, aber untereinander bei Mastodon kommunizieren können. So wird verhindert, dass irgendein Multimilliardär die Plattform einfach kaufen und nach seinen wirren Vorstellungen führen kann.
Ebenso verhindert es jede andere Art von Machtmissbrauch: Fühlt man sich auf einem Server durch dessen Betreiber ungerecht behandelt, kann man zu einem der Hunderten anderen wechseln und trotzdem am sogenannten Fediverse teilnehmen. Nachteil: Die Anmeldung ist ein bisschen komplexer, die Einstiegshürde höher als bei anderen sozialen Netzwerken.
Genau dort jedoch, auf Mastodon, versammeln sich inzwischen auch viele prominente Figuren der deutschen Twittersphere – und versuchen sich seither in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden.
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Das Fehlverhalten der Neulinge
Ganz ohne Reibereien verläuft das nicht. Bei den ersten großen Nutzerwanderungen im November wurden die Neuankömmlinge noch ein wenig zähneknirschend empfangen. Server führten wegen des Ansturms zeitweise Aufnahmestopps ein, Stamm-Nutzerinnen und -Nutzer befürchteten, dass der berühmt-berüchtigte Ton des Netzwerks Twitter nun auch ins harmonische Fediverse herüberschwappen könnten. Die von Ironie, Sarkasmus und bösen Pointen gespickten Postings kamen nicht gut an, nicht wenige wurden von Alteingesessenen umgehend zurechtgewiesen.
Inzwischen scheint man sich aneinander gewöhnt zu haben. Scrollt man durch die Diskussionsbeiträge auf den Mastodon-Instanzen, so sind im dezentralen Netzwerk deutlich konstruktivere Diskussionen zu lesen als beim oftmals toxischen Twitter. Sie sind – meistens zumindest – in freundlichem Ton formuliert, man diskutiert auf Augenhöhe und in nahezu harmonischer Atmosphäre. Und knallt es doch einmal, dann geht man mürrisch auseinander – der berühmt-berüchtigte „Shitstorm“, der durch Twitter erst so richtig salonfähig wurde, bleibt aber aus.
Warum ist das eigentlich so?
Warum Mastodon so friedlich ist
Die naheliegendste Antwort wäre, dass es an den Nutzerinnen und Nutzern selbst liegt. Ein Großteil der Neuankömmlinge hat sich bei Mastodon angemeldet, weil man Elon Musk geschlossen ablehnt. Viele lassen sich dem eher linksliberalen Spektrum zuordnen, man teilt ähnliche politische Positionen, was größere Reibereien per se weniger wahrscheinlich macht. Diejenigen, mit denen man sich auf Twitter tagtäglich Kleinkriege lieferte, haben bislang wenig Interesse, sich im Fediverse anzumelden – andere werden gar nicht erst reingelassen.
Es könnte auch damit zu tun haben, dass Mastodon eine im Verhältnis zu Twitter junge Plattform mit noch vergleichsweise wenigen Nutzerinnen und Nutzern ist. „Ab 300 kommen die Arschlöcher“ soll der frühere Kettcar-Frontmann Marcus Wiebusch mal über Rockbands und deren Publikum gesagt haben – vielleicht gilt das auch für Mastodon. Je weniger Leute, desto weniger Krach.
Aus der Community sind bereits Gebete zu hören, dass das bitte, bitte auch so bleiben möge. „Ich will nicht, das Mastodon zu Twitter wird. Ich will, dass Mastodon viel besser wird“, schreibt etwa die Nutzerin „Em“ in einem vielfach kommentierten Posting. „Lasst uns alle daran arbeiten, dass Mastodon ein Ort des Respekts, der Inklusion, der Zugänglichkeit und ein Ort der Hoffnung auf eine bessere Welt wird.“
Auch die Technik spielt eine Rolle
Naheliegender als die reine Zusammensetzung der Nutzerinnen und Nutzer ist allerdings etwas anderes – nämlich die technische Infrastruktur der Plattform. Grob gesagt ist Mastodon eine Art Twitter, wie man es vor rund zehn Jahren einmal kannte – als auch dort der Ton noch ein anderer war. Der Feed ist nicht durch Algorithmen bestimmt, sondern chronologisch. Statt Likes und Herzchen gibt es Sterne, ganz wie früher. Und die auf Twitter oftmals ausufernde „Thread“-Funktion gibt es auf Mastodon in dieser Form ebenfalls nicht – dafür immerhin 500 statt 280 Zeichen.
Insbesondere das Fehlen eines Algorithmus sorgt dafür, dass sich sogenannte „Tröts“ (so nennt man die Posts auf Mastodon) mehr oder weniger organisch verteilen müssen – also etwa durch „Retröts“ (das Äquivalent zum Retweet). Es gibt zwar eine „Entdecken“-Funktion, die reichweitenstarke Postings anzeigt – automatisch in die eigene Timeline gespült werden sie aber nicht. Das dürfte sich auf die Nutzung der Plattform auswirken: Posts, die nur für den Knalleffekt geschrieben werden, die nur darauf aus sind zu trollen und zu mobben, gehen im Zweifel sang und klanglos unter.
Der alles entscheidende Unterschied zu Twitter scheint aber ein anderer zu sein – und zwar die fehlende Zitierfunktion. Im Netzwerk von Elon Musk ist es möglich, Tweets anderer Personen zu retweeten und diese noch mal zusätzlich mit einem eigenen Kommentar anzureichern. In der Twittersphere ist diese Art des Kommentierens auch als „Drüberkommentar“ oder kurz: „Drüko“ bekannt. Man diskutiert nicht unter einem Tweet, sondern spielt ihn in kommentierender Weise an seine eigene Community aus. Bei Mastodon fehlt diese Funktion gänzlich.
Mobbing mit der Zitatfunktion
Gut so, sagt manch einer. Denn bei Twitter wurde der sogenannte „Drüko“ zuletzt mehr als missbräuchlich verwendet. Die Autorin Franziska Reuter hatte das Problem bereits im Oktober in ihrem Socialmedia-Knigge auf der Plattform „54 Books“ erklärt: Der Zitat-Tweet sei „keine Einladung zum weiteren Gespräch. Man bricht die Kommunikation ab, um sie woanders hinzutragen.“ „Woanders“ ist in diesem Fall das eigene Twitter-Profil. Hier bekämen die „Drüberkommentierer“ dann Unterstützung der eigenen Followerinnen und Follower und könnten darüber hinaus den Widerspruch technisch blocken.
Der Diskussion dienlich sei das nicht. Vielmehr sorge ein solcher Zitat-Tweet häufig für Eskalation. „Ein solcher Drüko entspricht (...) mindestens einer von zwei Verhaltensweisen, die wir von Kindern kennen“, schreibt Reuter. „Die eigene Meinung laut rauszubrüllen, während man sich selbst die Ohren zuhält, oder Streit mit Stärkeren vom Zaun zu brechen und sich dann von seinen älteren Geschwistern verteidigen zu lassen.“ Irgendwann gehe es nur noch ums Rechthaben, man bettele verzweifelt um Unterstützung seiner Gefolgschaft. „Drükos sind ein Eskalationsmittel und sollten deshalb ausgesprochen sparsam eingesetzt werden“, rät die Autorin.
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Twitter ist eine der wenigen Plattformen, in denen solche „Drüberkommentare“ massenhaft und häufig und mitunter „toxisch“ eingesetzt werden. Zu beobachten sind solche Tendenzen aber auch auf Tiktok: Mithilfe sogenannter „Stichtes“ lassen sind Videobeiträge anderer remixen und kommentieren. Das kann hoch kreativ genutzt werden, aber es kann auch nur dazu dienen, sich in einer Diskussion ganz nach vorne zu drängeln. Teilt sich ein solches Antwortvideo besonders häufig, kann es, ähnlich wie beim „Drüberkommentar“ in handfestes Mobbing umschlagen. Nicht selten wird die Funktionen gezielt dafür eingesetzt, unliebsame Nutzerinnen und Nutzer zu „markieren“ und die eigene Community auf sie zu hetzen.
Kommentar-Show nicht erwünscht
Genau das wollen die Entwickler von Mastodon nicht. Bereits 2018 schrieb Gründer Eugen Rochko auf seinem Account: „Ich habe mich bewusst gegen eine Zitierfunktion entschieden, weil sie unweigerlich das Verhalten der Menschen vergiftet. Man ist versucht zu zitieren, wenn man eigentlich antworten sollte, und so spricht man zu seinem Publikum, anstatt mit seinem Gesprächspartner. Es wird zur Show.“ Selbst wenn man für einen „guten Zweck“ zitiere, zum Beispiel, um sich über unangenehme Kommentare lustig zu machen, verhelfe man diesen zu mehr Aufmerksamkeit. „Kein Zitat. Dankeschön.“
Frühere Twitter-Nutzerinnen und Nutzer können das nicht nachvollziehen. Auf Mastodon ist unter Neuankömmlingen längst eine handfeste Diskussion darüber entbrannt, warum das Feature hier eigentlich fehle. Die Nutzerin „Sushi_030″ etwa wünscht sich, Postings auf der Plattform mit „zusätzlichen Infos“ ergänzen oder einordnen zu können – was ohne ein solches Zitat kaum möglich sei. Anne Roth ist der Meinung, das sei auch ein „Teil von (politischer) Auseinandersetzung“. Die Einschränkung seitens Mastodon halte sie für falsch. Ohne die Funktion, so glauben einige, könne Mastodon niemals zu Twitter aufschließen.
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Christian Imhorst sieht das anders: Zitat-Posts seien ein „Eskalationsmittel“ – mit ihnen „radikalisieren sich Menschen leichter in ihrer Blase, was das demokratische Miteinander untergräbt“. „Don Sortiermodus“ empfindet solche Zitatposts als „unhöflich“. Die früheren Twitter-Nutzerinnen und Nutzer würden nun zu Mastodon kommen, um die dortigen Gepflogenheiten zu ändern – das lehne er ab. Die Plattform, so glauben einige, sei gerade deshalb so friedlich und konstruktiv, weil die von Twitter bekannte Mobbingfunktion fehle.
Ein bisschen langweilig ist es schon
Ob das langfristig so bleiben wird, ist jedoch fraglich. Zu beobachten ist bereits, dass frühere Twitterer nun versuchen, das fehlende Feature zu umgehen – etwa indem sie Postings einfach screenshotten und darüber kommentieren. Das war zuletzt auch vermehrt auf Twitter zu beobachten. Zu beobachten ist aber auch, dass dieses Stilmittel auf Mastodon nicht besonders gut funktioniert. Bilder werden merkwürdig abgeschnitten, ein destruktiver Beitrag wird von der Community eher abgestraft als gepusht.
Andere wiederum setzen Links zu einem Tweet, den sie zitieren wollen. Das wiederum setzt jedoch eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Post voraus – ein plumper „Drüberkommentar“ ist so nicht möglich.
Das minimalistische Design und die fehlenden Funktionen könnten die Plattform Mastodon also möglicherweise wirklich zu einem besseren Ort im Internet machen und Netzdebatten zivilisieren. Vielleicht ist all das aber auch eher hinderlich – und der Grund, warum Mastodon niemals den Erfolg einer Plattform wie Twitter erlangen kann.
Denn eines lässt sich auch nicht von der Hand weisen: So lästig und nervig und vergiftend die vielen Kleinkriege auf Twitter auch sind: Sind sind auch spannend zu lesen. Spannender jedenfalls als Diskussionen in einem Netzwerk, in dem sich immer alle einig sind.