Corona-Chaos: In Indien boomt der Schwarzmarkt für Medikamente
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In der großen Verzweiflung der Inder wächst der Schwarzmarkt für Medikamente.
© Quelle: Channi Anand/AP/dpa
Das Gesundheitssystem in Indien steht vor dem Kollaps. In ihrer Verzweiflung setzen einige Angehörige von Covid-19-Patienten auf Medikamente, deren Wirksamkeit bislang nicht durch Studien belegt wurde – oder die sie auf dem Schwarzmarkt ergattern.
Mit einem Eisbeutel in der Hand wartete Ashish Poddar vor dem Krankenhaus auf den Schwarzmarkthändler. Er brauchte dringend Medikamente für seinen 68-jährigen Vater, der in seinem Bett in der Klinik in Neu-Delhi nach Luft japste. Doch die Medikamente kamen nie, das Eis, das für die Kühlung gedacht war, schmolz und der Vater starb wenige Stunden später.
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Die Pandemie und wir
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Poddar war wie so viele andere in Indien in der schlimmsten Phase der Corona-Pandemie von Verzweiflung getrieben, als er sich an einen Schwarzmarkthändler wandte, um die Medikamente Remdesivir und Tocilizumab zu bekommen, die es in der Klinik einfach nicht gab. Gegen eine Vorauszahlung von umgerechnet circa 800 Euro versprach der Schwarzmarkthändler, die Mittel zu besorgen.
Immer wieder kamen SMS des Händlers. Es sei unterwegs, hieß es in einer. Schon ganz in der Nähe, schrieb er in einer anderen. Bis es zu spät war. „Ich wünschte, er hätte mir wenigstens gesagt, dass er nicht kommen wird. Dann hätte ich anderswo suchen können“, sagte der trauernde Sohn.
Die Schwarzmarktpreise für Remdesivir, das von mehreren indischen Firmen hergestellt wird, seien um das 20-Fache auf umgerechnet bis zu circa 800 Euro für eine einzige Ampulle gestiegen, sagte Siddhant Sarang, der als Freiwilliger für eine Jugendorganisation tätig ist, die Covid-19-Patienten hilft, Medikamente und Krankenhausbetten zu finden.
Die Händler verlangten oft Vorauszahlungen in bar, sagte er. „Die Leute gehen mit 200.000 bis 300.000 Rupien (umgerechnet circa 2200 bis 3350 Euro) in einem Koffer zu den Händlern.“ Die Behörden versuchen nun gegen das Horten von Medikamenten und Sauerstoff vorzugehen, in Neu-Delhi gab es Razzien.
Medikamentenvorräte vernichtet
Im September hatten indische Hersteller nach offiziellen Angaben mehr als 2,4 Millionen Dosen des Medikaments Remdesivir produziert. Doch als die Infektionszahlen im Herbst sanken, vernichteten sie abgelaufene Vorräte und produzierten weniger. Auf den Anstieg der Fälle im Februar reagierte Indien nur langsam, erst im März nahm die Produktion wieder an Fahrt auf. Mittlerweile verzeichnet Indien tägliche neue Rekordzahlen bei den Neuinfektionen. 401.993 waren es am Samstag sowie 3523 Todesfälle. Das Problem sind aber nicht die absoluten Zahlen. Da Indiens Bevölkerung mit 1,3 Milliarden Menschen 15,48-mal so groß ist wie die deutsche, entsprechen diese 401.993 Neuerkrankungen in Indien einer täglichen Rate von 25.968 Fällen bei uns.
Wirklich dramatisch wird die Lage durch die überlasteten Krankenhäuser und die unzureichende Versorgung mit Sauerstoff und Medikamenten. Diese Woche verkündetet der Pharma- und Chemiekonzern Merck eine Vereinbarung mit fünf indischen Arzneimittelherstellern über die Produktion des experimentellen, antiviralen Mittels Molnupiravir, das ähnlich wie Remdesivir wirkt. Doch anders als Remdesivir wird es in Pillenform und nicht per Infusion verabreicht. Ab wann das Mittel verfügbar ist, bleibt unklar. Neben Merck verhandeln auch andere Pharmaunternehmen wie Roche und Eli Lilly mit der indischen Regierung. Vorerst bleiben wirksame Mittel für viele Inder aber unerreichbar.
Tropenmittel gegen Covid-19
Indiens aktuelle Richtlinien zur Behandlung von Covid-19-Kranken orientieren sich an denen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und den USA. Eine zentrale Abweichung ist jedoch, dass in Indien leicht erkrankte Patienten mit den bei Tropenkrankheiten eingesetzten Mitteln Hydroxychloroquin und Ivermectin behandelt werden dürfen. Die WHO rät unabhängig von der Schwere der Erkrankung dringend von der Verwendung Hydroxychloroquins ab. Auch Ivermectin soll demnach lediglich zu Studienzwecken eingesetzt werden.
Obwohl Indien als weltweit führender Produzent für Arzneimittel gilt, war die Regulierung von Medikamenten vor Ort bereits vor der Pandemie unzureichend. Verschreibungspflichtige Medikamente würden regelmäßig ohne Rezept verkauft, sagte Amar Jasni, ein Experte für Medizinethik. Darunter fielen nun auch von den indischen Behörden für Covid-19 freigegebene Notfallmedikamente.
Medikamentengabe nach Gusto
Auch der mit Sars-CoV-2 infizierten Suman Shrivastava wurde das Mittel Ivermectin von ihren Ärzten in Kanpur im Bundesstaat Uttar Pradesh verschrieben. Als sich die Symptome der 57-Jährigen verschlechterten, schwenkten die Ärzte auf das antivirale Mittel Favipiravir um, obwohl dessen Wirksamkeit gegen Covid-19 ebenfalls nicht nachgewiesen ist.
Das Mittel sei schwer zu finden gewesen, aber er habe es schließlich in einer Apotheke entdeckt, die ihre Vorräte rationiert abgab, sagte ihr Neffe Rajat Shrivastava. Über Twitter sei er schließlich an weitere Dosen des Medikaments gekommen, seiner Tante gehe es jetzt besser.
Anant Bhan, der in Bhopal zu Gesundheitswesen und Ethik forscht, warnte vor den Risiken, die ein Do-it-yourself-Verfahren birgt. Antivirale Mittel und Steroide sollten aufgrund der möglichen Nebenwirkungen nur im Krankenhaus eingenommen werden, sagte er. Auch könnten Mittel, die im einen Moment lebensrettend sind, je nach Zeitpunkt und Schwere der Symptome im nächsten Moment schädlich sein. „Es ist beängstigend, weil das keine Vitaminpillen sind.“
Zur Behandlung ihrer kranken Eltern wurde Stuti Bhardwaj von einem Arzt gleich zu mehreren Medikamenten geraten, darunter Hydroxychloroquin. Die 37-Jährige lief in Neu-Delhi von Apotheke zu Apotheke, um das Medikament für ihre Eltern zu besorgen, die nicht auf das Virus getestet werden konnten, aber Covid-19-Symptome zeigten. Schließlich fand und kaufte sie es, wohlwissend, dass es wahrscheinlich keine Wirkung zeigen wird. „Meine Eltern sterben, ich bin verzweifelt“, sagte Bhardwaj.
Aniruddha Ghosal, Neha Mehrotra/AP