Das „Winterdilemma“: Wie viele Corona-Maßnahmen braucht es in den nächsten Monaten?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/AJ5OO5T6CJG5RGJIMITV3YFAAU.jpeg)
Maskenpflicht an Universitäten: Eine Studentin steht mit einer Maske vor einem Gebäude der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Bei den Corona-Beschränkungen für den kommenden Winter gilt es einer Modellierung zufolge, das richtige Maß zu finden. Werden die Inzidenzen zu stark gesenkt, könnte es stattdessen im Frühjahr zu einem stärkeren Ausbruch kommen. Ganz ohne Schutzmaßnahmen hingegen könnte die Zahl der schweren Verläufe noch einmal deutlich steigen.
Ein Team um die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation hat verschiedene Varianten für die Entwicklung der Pandemie in den kommenden Monaten durchgerechnet. In allen möglichen Szenarien gäbe es dabei Nachteile, die nur schwer gegeneinander aufzuwiegen sind. Ihre Ergebnisse haben die Forschenden daher unter dem Titel „Das Winterdilemma“ veröffentlicht.
Die Besonderheit der Modellierung: Das menschliche Verhalten, das sich bei steigenden oder fallenden Infektionszahlen verändert, wurde mit berücksichtigt. So gingen die Forschenden davon aus, dass staatliche Regeln eher eingehalten werden, Menschen Kontakte außerdem eher einschränken und sich mehr Menschen impfen lassen, wenn die aktuelle Infektionslage als bedrohlich empfunden wird. Das sei bei hohen Inzidenzen und einer hohen Krankenhausauslastung der Fall.
Verhaltensänderung bei höheren Inzidenzen
Die Berechnungen der Forschenden beruhen daher auf der Annahme, dass eine höhere Belegung der Krankenhäuser automatisch zu mehr Vorsicht in der Bevölkerung führt. Dies würde dann wiederum die Infektionszahlen senken, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sprechen hierbei von einer „Feedback-Schleife“. Tatsächlich hatten schon zu Beginn der Pandemie bereits freiwillige Verhaltensänderungen und das Verbot von Massenveranstaltungen die erste Welle ausgebremst, wie sich im Nachhinein zeigte.
In ihrer Modellierung rechneten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun durch, welche Entwicklung mit mehr oder weniger strengen Corona-Maßnahmen für die kommenden Monate zu erwarten wäre. Ohne besondere Maßnahmen käme es demnach zu einem steilen Anstieg der Infektionen und Krankenhauseinweisungen. Dieser würde dem Szenario zufolge zwar anschließend durch ein verändertes Verhalten der Bevölkerung ausgebremst. Trotzdem würde dies eine höhere Zahl an schweren Verläufen und Todesfällen bedeuten. Dann hätten allerdings viele Menschen anschließend eine natürlich erworbene Immunität oder würden sich aufgrund der Bedrohungssituation impfen lassen. Für das Frühjahr wäre dann keine besonders schwere Welle mehr zu erwarten.
Würde hingegen ein bestimmtes Maß an Beschränkungen aufrechterhalten, wäre das Infektionsgeschehen im Winter gering. Es könnte dann aber eine stärkere Welle im Frühjahr drohen. Denn nicht nur würden sich bei niedrigen Inzidenzen weniger Menschen impfen lassen: Am Ende des Winters hätten dann auch weniger Menschen eine Infektion durchgemacht und dadurch eine natürliche Immunität erworben, wie die Modellierung darlegt. Außerdem würde die Boosterwirkung für eine natürliche oder durch Impfung erworbene Immunität fehlen.
Kontakt mit Erreger frischt Immunschutz auf
Die Autoren und Autorinnen der Veröffentlichung verweisen hierbei auf einen Effekt, der sich bereits bei anderen Atemwegserkrankungen wie etwa dem Respiratorischen Synzytial-Virus gezeigt hat: Durch die AHA-Regeln und weitere Corona-Beschränkungen wurden viele Krankheitserreger zurückgedrängt, die normalerweise saisonal in der Bevölkerung zirkulieren. Der regelmäßige Kontakt mit den Erregern trainiert das Immunsystem.
Infektionen bei Geimpften können ein Booster sein
Bei ihren Modellrechnungen haben Priesemann und ihr Team daher mit einbezogen, dass der Immunschutz vor dem Coronavirus zwar mit der Zeit schwindet, bei einer natürlich erworbenen Immunität aber wahrscheinlich länger als nach einer Impfung anhält. Und dass er durch den Kontakt mit dem Erreger sowohl bei Genesenen als auch bei Geimpften wieder aufgefrischt werden kann. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass dieser in einem bestimmten Zeitfenster nach Impfung oder durchgemachter Infektion stattfindet. Beim Coronavirus hat sich gezeigt, dass Infektionen bei vollständig Geimpften wie ein extrem starker Booster wirken können. In der Risikogruppe der Älteren wären Infektionen allerdings nur dann unbedenklich, wenn ihr Impfschutz nicht bereits zu stark nachgelassen hat – was im Frühjahr bei einer größeren Anzahl Geimpfter der Fall sein könnte.
Eine Möglichkeit, die der Modellierung zufolge wohl die wenigsten Nachteile birgt, sind moderate Beschränkungen. Diese müssten zwar genügen, um eine starke Belastung der Krankenhäuser und eine hohe Streberate zu verhindern, aber trotzdem zulassen, dass eine Immunität in der Bevölkerung entsteht. Um die negativen Folgen einer neuen Welle abzumildern, könne außerdem versucht werden, die Impfquote auch bei weniger hohen Inzidenzen zu erhöhen, so die Autoren und Autorinnen der Modellierung.