Das Zocken mit Omikron: Bleibt den Briten die große Katastrophe erspart?

Krankenschwestern arbeiten auf einem Korridor einer Akut-Station im St. Georges Krankenhaus in London. Obwohl die Krankenhauseinweisungen sinken, schlagen Kliniken Alarm.

Krankenschwestern arbeiten auf einem Korridor einer Akut-Station im St. Georges Krankenhaus in London. Obwohl die Krankenhauseinweisungen sinken, schlagen Kliniken Alarm.

London. Am 27. November kam Omikron an – sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten beider Länder im Umgang mit der hoch ansteckenden Virusvariante auch schon auf. Im Vereinigten Königreich traf Omikron auf eine Gesellschaft fast ohne Beschränkungen und breitete sich in Windeseile aus. Premier Boris Johnson ließ das weitgehend zu und erklärte die Auffrischungsimpfungen unter dem Slogan „Get Boosted Now“ zur obersten nationalen Mission.

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Selbst eine leichte Verschärfung seiner Corona-Politik – mehr Masken in Innenräumen und Impfnachweise für Clubs und Großevents – löste eine Rebellion ungekannten Ausmaßes in den Reihen seiner Tory-Partei aus. Seit den Tagen vor Weihnachten lässt sich die englische Corona-Strategie daher so umreißen: Augen zu, boostern – und Russisch Roulette mit dem Virus spielen.

Volle Ränge und keine Masken im Londoner Tottenham Hotspur Stadium am 9. Januar, während wenige Tage zuvor Höchststände von über 200.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet wurden.

Volle Ränge und keine Masken im Londoner Tottenham Hotspur Stadium am 9. Januar, während wenige Tage zuvor Höchststände von über 200.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet wurden.

2G+ in Deutschland vs. Feiern und Fußball in England

In Deutschland begann die Zeit des Wartens und Warnens: Omikron war zwar da, aber lange noch nicht so richtig – auch wegen einer dünnen Datenlage über die Feiertage. Wochenlang schielte man besorgt auf den Omikron-Anteil in den Infektionszahlen, machte aus 3G erst 2G und dann sogar 2G+, während im Paralleluniversum England weiter Fußball gespielt und gefeiert wurde – ob geimpft oder ungeimpft. International waren sich viele Beobachter einig: eine Katastrophe mit Ansage.

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Doch nun, einige Wochen später, ist die Lage komplizierter. Mittlerweile gilt als bewiesen, dass Omikron Menschen weniger oft schwer krank macht – allerdings führt die schiere Masse an Infizierten dazu, dass etliche Patientinnen und Patienten ins Krankenhaus kommen. Verschärfungen fordert in England niemand mehr, dafür ist es den Modellen der Expertinnen und Experten zufolge zu spät. Stattdessen steht die Frage im Raum: Hat sich das Zocken mit dem Virus gelohnt? Bleibt den Briten, obwohl es kaum Einschränkungen gab, die große Katastrophe erspart?

Optimismus in London – Ernstfall in Krankenhäusern

Im politischen London scheint sich diese Annahme durchzusetzen, zumal die Todeszahlen mit zuletzt rund 300 pro Tag weit unter denen des vergangenen Winters liegen. Der britische Minister Michael Gove erklärte diese Woche im BBC-Interview sein Werben für schärfere Maßnahmen rückwirkend zum Irrtum und sagte über Johnsons kontroversen Kurs: „Seine Einschätzung hat sich bewahrheitet.“

Aus dem Gesundheitssystem dringen dagegen Tag für Tag Nachrichten, die beunruhigend klingen. Dem „Guardian“ zufolge haben seit Neujahr 24 Krankenhäuser den Ernstfall ausgerufen. Das bedeutet, dass sie der Ansicht sind, ihren Betrieb nicht wie gewohnt aufrechterhalten zu können. Das Militär ist im Einsatz, um Lücken zu stopfen. Tausende Notfallpatientinnen und -patienten müssen stundenlang warten, bis sie behandelt werden. Im Norden des Landes bat man Herzinfarkt-Patientinnen und -Patienten, sich selbst ein Taxi zum Krankenhaus zu rufen. Der National Health Service (NHS) hat Verträge mit privaten Trägern geschlossen, um deren Kapazitäten nutzen zu können.

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Fehlendes Gesundheitspersonal als Hauptproblem

Außerdem werden in Turnhallen oder Bildungszentren erneut Mini-Notfallkrankenhäuser aufgebaut, um notfalls Patientinnen und Patienten in 4000 Extrabetten aufnehmen zu können. Das Hauptproblem ist jedoch aktuell nicht der fehlende Platz, sondern das fehlende medizinische Personal – weil so viele gleichzeitig wegen Omikron ausfallen.

Am 9. Januar fehlten im NHS England mehr als 40.000 Beschäftigte im Zusammenhang mit Covid-19 – mehr als dreimal so viele wie noch Anfang Dezember. „Der NHS ist nicht überwältigt, aber definitiv sehr strapaziert“, sagte der Mediziner Azeem Majeed vom Imperial College London der dpa. Er räumt aber auch ein: Die Belastung ist trotz allem nicht so heftig wie vor einem Jahr, als die Alpha-Welle das Land überrollte.

Corona-Zahlen sinken – Grund zur Hoffnung?

Nachdem zeitweise in London jeder Zehnte infiziert war, scheint Omikron langsam die Kraft auszugehen. Dass die Kurve der Neuinfektionen und der Krankenhauseinweisungen seit einigen Tagen fällt, gibt Grund zur Hoffnung, dass das Schlimmste bald überstanden sein könnte. Majeed geht davon aus, dass die Fallzahlen trotzdem noch lange auf hohem Niveau bleiben werden – und warnt davor, die wenigen geltenden Maßnahmen zu früh aufzuheben. Rechtlich laufen diese jedoch am 26. Januar aus. Es gilt als unwahrscheinlich, dass der wegen Lockdown-Partys in der Downing Street unter Druck stehende Johnson überhaupt den Versuch wagen wird, sie noch einmal zu verlängern.

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Schottland, Nordirland und Wales entscheiden eigenständig über ihre Corona-Maßnahmen – und fahren einen deutlich vorsichtigeren Kurs. Der walisische Regierungschef Mark Drakeford warf Johnson kürzlich vor, die englischen Bürgerinnen und Bürger nicht vor Covid zu schützen.

Corona-Expertin Christina Pagel befürchtet, dass die aktuelle Kombination aus neuen Varianten, schwindendem Impfschutz und kaum Gegenmaßnahmen England zu „massiven Infektionswellen ein oder zweimal im Jahr verdammt“, wie sie kürzlich auf Twitter schrieb. Das werde den Gesundheitsdienst zunehmend schwächen und immer wieder für heftige Störungen im öffentlichen Leben sorgen. Auch für den Umgang mit weiteren Krisen - wie weiteren Pandemien oder der Klimakrise - sei dies keine funktionierende Strategie. „Wir bewegen uns rückwärts“, lautet das Urteil der Wissenschaftlerin.

RND/dpa

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