Computer im Rucksack

Gelähmter kann dank Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle wieder gehen

Der Patient und eine Wissenschaftlerin laufen an einem See entlang.

Der Patient und eine Wissenschaftlerin laufen an einem See entlang.

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Mit einer neuen Kombination von Geräten kann ein querschnittsgelähmter Mann wieder gehen – allerdings mit deutlichen Einschränkungen. Seine Beine kann der 40‑Jährige dabei per Gehirn steuern. Der Schlüssel ist eine Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle (BSI; Brain-Spine Interface), die Gehirnaktivitäten in Echtzeit entschlüsselt und Signale für eine Elektrostimulation der Motorneuronen in der Wirbelsäule erzeugt. Ein Team um Jocelyne Bloch und Grégoire Courtine von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) beschreibt den Ansatz in der Fachzeitschrift „Nature“.

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Patient kann Bein durch seine Gedanken bewegen

Die Forschungsgruppe hatte bereits vor einem Jahr eine Folie mit 16 Elektroden vorgestellt, die zielgenau Rückenmarksnerven stimulieren kann. Ein Tabletcomputer hat die Elektroden drahtlos so angesteuert, dass Elektroimpulse bestimmte Beinbewegungen ermöglichten. Die Patienten wählten eine Aktivität auf dem Tablet und starteten so das Bewegungsprogramm mit der gezielten Nervenstimulation.

Der Unterschied zum neuen Verfahren ist groß. „Die vorherige Stimulation kontrollierte mich, und jetzt kontrolliere ich die Stimulation durch meine Gedanken“, wird der Patient Gert-Jan Oskam in einem „Nature“-Artikel zitiert. Sobald er sich für einen Schritt entscheide, setze sich das Bein in Bewegung.

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Patient trägt Computer bei sich

Um diesen Fortschritt zu ermöglichen, wurden Oskam zwei Implantate unter die Schädeldecke auf die Hirnhaut eingesetzt. Sie nehmen über jeweils 64 Elektrodensensoren die Hirnaktivität im Motorcortex auf – also jenem Areal, das für willkürliche Bewegungen zuständig ist. Die Daten werden drahtlos an einen Computer gesendet, der in einem Rucksack getragen werden kann.

Diese Verarbeitungseinheit extrahiert unter anderem räumliche und zeitliche Merkmale der Hirndaten und leitet daraus Bewegungsabsichten ab. Sobald eine solche Absicht identifiziert ist – innerhalb von Millisekunden –, erhält ein im Bauchraum implantierter Impulsgeber den entsprechenden Befehl und die Rückenmarksnerven werden stimuliert.

Das Ergebnis ist vielversprechend: „Nach nur fünf Minuten Kalibrierung unterstützte der BSI eine kontinuierliche Kontrolle der Aktivität der Hüftbeugemuskeln, wodurch der Teilnehmer im Vergleich zu Versuchen ohne BSI eine fünffache Steigerung der Muskelaktivität erreichen konnte“, schreibt die Gruppe.

Patient kann alleine Wohnung streichen

Der Patient kann entscheiden, ob er mit einem Schritt beginnt, kontinuierlich geht, anhält oder ruhig steht, ohne dass Fehlalarme entdeckt wurden, die die Stehleistung beeinträchtigt hätten. Oskam braucht zwar noch Krücken, kann aber wieder Treppen steigen und sich auf schrägen Flächen bewegen. Die Forschenden optimierten die Gerätekombination so, dass der Patient sie auch außerhalb des Labors in seinem Alltag nutzen kann.

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„Letzte Woche musste etwas gestrichen werden, und es war niemand da, der mir helfen konnte“, erzählt Oskam in dem „Nature“-Artikel. „Also nahm ich den Rollator und die Farbe und machte es selbst im Stehen.“ Courtine, Bloch und Kollegen sehen aber noch Verbesserungspotenzial, etwa in der Miniaturisierung der einzelnen Systemteile wie der Recheneinheit.

Patient ist extrem diszipliniert

Rainer Abel vom Klinikum Bayreuth, der nicht an der Studie beteiligt war, sieht einen großen Fortschritt für diese Technologie. Demnach ist der Schlüsselaspekt, dass das Ganze in Echtzeit funktioniert. Das Studienergebnis betreffe jedoch nur einen Menschen, und es sei fraglich, ob es auf viele andere Patienten übertragbar sei. „Es handelt sich in dieser Studie um einen außergewöhnlich disziplinierten und offenbar auch risikobereiten Patienten, der bereit ist, seine Lebensführung zumindest über lange Zeiten einem Trainingsziel (Laufen) unterzuordnen“, betont Abel.

Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg, ebenfalls nicht beteiligt, findet es beachtenswert, dass der Ansatz der Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle bei diesem Patienten grundsätzlich zu funktionieren scheine. Allerdings werde die Intensität des Heimtrainings vor der Implantation der Hirnimplantate nicht in der Studie beschrieben. Möglicherweise sei die Verbesserung der Willkürmotorik durch die Intensivierung des Trainingsprogramms erst nach der Implantation erreicht worden, betont Rupp.

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RND/dpa

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