Kommt die zweite Welle? Kekulé und Drosten befürchten erneuten Virusanstieg
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/UZFDIDOEABCLJGVX2XOL3QHJN4.jpg)
Die Weltgesundheitsorganisation, Virologen und Infektiologen gehen von einem erneuten Anstieg an Infektionen im Herbst aus. Denn Coronaviren mögen in der Regel niedrige Temperaturen.
© Quelle: GGGraphics/shutterstock
Deutschland lockert. Kneipen und Restaurants machen auf, Arbeitnehmer fahren wieder ins Büro, Hallensport und Fitnessstudios laufen wieder an, der Sommerurlaub kann gebucht werden. Die Zahl der Neuinfektionen bewegt sich laut Robert-Koch-Institut gerade auf einem niedrigen Niveau. Auch die täglich neu ermittelte Reproduktionszahl liegt seit einigen Tagen unterhalb der kritischen Marke von 1. Rund 40 Prozent der Intensivbetten sind laut RKI-Situationsbericht frei (Stand 19. Mai). Müssen sich die Menschen hierzulande also nicht mehr sorgen, sich zu infizieren oder einen Kollaps des Gesundheitswesens zu erleben?
Wohl kaum. Nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollte sich Europa bereits jetzt auf eine zweite tödliche Welle von Coronavirus-Infektionen einstellen. Es sei an der „Zeit für die Vorbereitung, nicht für Feierlichkeiten", sagte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, am Montag der britischen Zeitung „The Telegraph”. Damit spielte er direkt darauf an, dass die meisten europäischen Staaten ihre strikten Maßnahmen zur Eindämmung derzeit lockern.
Virologe Kekulé findet Bild einer „Zweiten Welle” unangebracht
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/B6OZCUYIOVHD7KNRWVUJR2HBC4.jpg)
Dass die Zahl der Infektionen im Herbst wieder zunehmen wird, steht für den Virologen Alexander Kekulé nahezu fest.
© Quelle: Imago
Wir müssen massenhaft in der Lage sein, das Virus sofort sichtbar zu machen.
Virologe Alexander Kekulé
Ganz so düster sieht Alexander Kekulé, Virologe und Infektionsepidemiologe an der Uniklinik Halle, die Situation hingegen nicht. Das Bild von der tödlichen „zweiten Welle“ der Pandemie beschreibt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland als irreführend – weil es nicht um eine alles verschlingende Bedrohung gehe, die im Herbst droht, sondern eher um viele kleine Brandherde, die sich allerdings auch zu einem großen Feuer vereinigen könnten, wenn sie nicht früh entdeckt und ausgetreten werden.
Um genau dieses frühe Löschen zu ermöglichen, setzt Kekulé neben konsequenter Maskenbenutzung vor allem auf eine massive Ausweitung der Testkapazitäten: „Wir müssen massenhaft in der Lage sein, das Virus sofort sichtbar zu machen“, sagt der Virologe. Eine halbe Million Menschen täglich müsste Deutschland bis dahin täglich testen können, fordert er – vor allem mit Schnelltests, die binnen weniger Minuten ein Ergebnis zeigten und zum Beispiel bei der Einreise an Flughäfen oder vor Besuchen in Krankenhäusern und Pflegeheimen verpflichtend sein sollten.
Anstieg der Neuinfektionen im Herbst befürchtet
Ideal wäre dazu aus seiner Sicht zum Beispiel eine deutsch-französische Initiative, etwa in Form einer gemeinsam finanzierten Fabrik, die in großem Stil Tests für Europa produziert: „Ich würde mir wünschen, dass Frau Merkel und Herr Macron bei ihrer nächsten Beratung neben wirtschaftlichen Themen auch die Frage der prophylaktischen Tests auf die Tagesordnung setzen nehmen.”
Dass die Zahl der Infektionen im Herbst aber wieder zunehmen wird, das steht für Kekulé nahezu fest: Nach seiner Überzeugung verhalte sich Sars-CoV-2 in dieser Hinsicht nicht anders als andere Corona- oder Influenzaviren, die sich in den kühleren Jahreszeiten deutlich stärker verbreiten. Der Rückgang jetzt sei neben den Maßnahmen auch den steigenden Temperaturen zu verdanken. „Im Herbst wird der Infektionsdruck dagegen wieder deutlich steigen“, warnt Kekulé. Die Ausgangslage sei dann hingegen schlechter als am Anfang dieses Jahres, da das Virus dann schon weltweit verbreitet ist. „Wir müssen daher im Herbst gut aufgestellt sein.“
Drosten: Spielraum angesichts Infektionszahlen neu ausloten
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/VVCQO3UOQJHQXBIY6NYQXPBFQA.jpeg)
Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin, vergleicht die aktuelle Phase in der Corona-Epidemie in Deutschland mit dem Tanz mit einem Tiger.
© Quelle: Christophe Gateau/dpa
Auch Charité-Virologe Christian Drosten geht nicht davon aus, dass die Lage auf lange Sicht stabil ist. Zuletzt zeigte er sich zwar sehr beeindruckt vom Verlauf in Deutschland. „Ich finde das sehr positiv, dass wir auch weiter kein nachhaltiges Ansteigen der Infektionszahlen haben“, sagte er im NDR-Podcast. Nach drastischen Maßnahmen wie Kontaktsperren zu Beginn folge nun eine Phase mit einer schrittweisen Rückkehr zu normalen Verhaltensweisen.
Das könne auch funktionieren. Das heiße aber nicht, dass es jetzt für alle Zeiten so bleibt. Zumal die vermehrten Virus-Ausbrüche in Schlachthöfen ein weiterer Hinweis darauf sein könnten, dass sich das Virus vor allem bei kälteren Temperaturen besser ausbreite.
Infektiologe Stoll: Welchen Effekt wird das Reisen haben?
Dass sich die Zahl der Neuinfektionen auf einem vergleichsweise geringen Niveau befindet, ist laut Matthias Stoll, Infektiologe an der Medizinischen Hochschule Hannover, ein Hinweis auf eine Angemessenheit der schrittweisen Lockerungen. „Man kann aber nicht vorhersagen, dass weitere - bereits jetzt angekündigte - Lockerungen ebenfalls die Infektionszahlen nicht vielleicht doch künftig nach oben anziehen lassen“, sagte Stoll gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Wegen des Zeitverzugs bei der Meldung der Neuinfektionen an die Gesundheitsbehörden solle man sich keinesfalls zu früh in falscher Sicherheit wiegen. „Die Reisetätigkeiten beginnen ja jetzt erst richtig wieder über die Pfingsttage und dann mit Beginn der Ferienzeit. Insofern müssen wir wachsam bleiben.“ Die Voraussetzungen für ein Ausbruchsgeschehen seien vor allem im Herbst besonders günstig. Es könne gut sein, dass Deutschland eine zweite größere Welle erlebt. Aber eine genaue Vorhersage sei schwierig. „Dazu kennen wir das Virus noch nicht lange genug.“