Präsident der Intensivmediziner: „Es würde mich nicht wundern, wenn es die Masken im Winter noch braucht“

Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).

Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).

Anfang Juni sind die Inzidenzen in Deutschland so niedrig wie schon lange nicht mehr. Doch wie ist die Corona-Lage aus intensivmedizinischer Sicht zu beurteilen? Prof. Gernot Marx vom Aachener Universitätsklinikum sagt: „Es ist noch nicht geschafft, geht aber in eine gute Richtung.“ Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) spricht für die Ärzte- und Pflegerschaft auf den Intensivstationen in ganz Deutschland. Und die hatten bis vor Kurzem noch mit einer permanent hohen Zahl schwerstkranker Covid-19-Patientinnen und -Patienten zu kämpfen. Mit Folgen, die weniger entspannt sind.

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Herr Marx, das medizinische Personal auf den Intensivstationen hat sehr fordernde Monate hinter sich. Wie geht es Ihnen gerade?

Ich bin sehr froh, dass sich die Lage gerade deutlich verbessert. Diese Woche befanden sich rund 2000 an Covid-19 erkrankte Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen in ganz Deutschland. Das sind so wenige wie seit Anfang November vergangenen Jahres nicht mehr. Und die Sieben-Tage-Inzidenz befindet sich unter 30, das ist beeindruckend. Auf den Stationen ist deutliche Entspannung zu spüren. Es ist noch nicht geschafft, geht aber in eine gute Richtung.

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Wie erklären Sie sich, dass es seit Mai immer weniger Ansteckungen mit Sars-CoV-2 gibt?

Die sogenannte Bundesnotbremse und die Impfungen haben offensichtlich gewirkt. Vor allem aber zeigen die Zahlen, dass sich die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger weiterhin sehr diszipliniert verhält. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn man in unsere europäischen Nachbarländer schaut, kann das auch ganz anders aussehen. In den Niederlanden beispielsweise befindet sich das Infektionsgeschehen noch auf einem sehr hohen Niveau.

Erleichtert über niedrigere Inzidenzen: Prof. Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).

Erleichtert über niedrigere Inzidenzen: Prof. Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).

Wie steht es gerade um die Arbeitsbelastung auf den Intensivstationen?

Den Teams merkt man an, dass sie erleichtert sind, weniger Covid-19-Patienten betreuen zu müssen. Aus Kapazitätsgründen wurden aber diverse Operationen in anderen Bereichen verschoben. Die holen wir jetzt so schnell wie möglich nach. Da hat sich ein Berg aufgetürmt, den wir erst jetzt abarbeiten können. Die Intensivbetten sind deshalb auch weiterhin konstant ausgelastet.

Hat sich die Altersstruktur der Covid-19-Erkrankten auf den Intensivstationen durch die Impfungen weiter verändert?

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Durch die fortschreitenden Impfungen betreuen wir weniger Ältere, was wirklich zuversichtlich stimmt. Das bedeutet aber auch, dass in den vergangenen Wochen die Covid-19-Patienten im Schnitt jünger geworden sind. Auch bei Menschen ohne bekannte Risikofaktoren ist es zu sehr schweren und teilweise tödlichen Verläufen gekommen. Eine schwere Erkrankung bei Kindern ist aber weiterhin eine große Ausnahme, das passiert nur ganz selten. Kinder können wohl nach milden Verläufen nachfolgend Probleme entwickeln. Aber wir sehen keine Verläufe, welche die Intensivmedizin notwendig machen.

Unsicherheitsfaktor Mutation: Vierte Corona-Welle ist möglich

Das Risiko dafür, dass es erneut viele Schwerkranke und Todesfälle geben könnte, besteht weiterhin.

Worauf kommt es aus Ihrer Sicht an, um gut durch den Sommer zu kommen?

Die Impfrate ist inzwischen beeindruckend. Es ist entscheidend, dass dieses Tempo beibehalten wird und möglichst viele Menschen bereit sind, sich impfen zu lassen. Wir müssen uns auch nach wie vor vorsichtig verhalten, also Maske tragen, Kontaktregeln beachten, regelmäßig Tests nutzen. Ein Unsicherheitsfaktor ist gerade die neue Mutation B.1.617.2, die noch ansteckender als B.1.1.7 sein soll.

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Warum ist das ein Problem, wenn Menschen bei niedriger Inzidenz sorgloser unterwegs sind?

Wenn viele Menschen unvorsichtig werden, könnten sich im Herbst wieder mehr Infektionen ereignen, eine vierte Welle ist möglich. Das Risiko dafür, dass es erneut viele Schwerkranke und Todesfälle geben könnte, besteht weiterhin. Die Intensivmedizin ist auf dieses Szenario aber vorbereitet. Wie in der zweiten und dritten Welle können wieder kurzfristig Kapazitäten freigemacht werden.

Gibt es inzwischen Fortschritte bei der Behandlung schwerer Verläufe?

Neben Dexamethason und Remdesivir gibt es einen neuen Antikörper, den man verwenden kann. Die Studien zeigen aber keinen wirklich durchschlagenden Erfolg. Wir werden also weiterhin verstärkt Forschung betreiben müssen, um irgendwann spezifische Medikamente zur Verfügung zu haben. Denn das Coronavirus wird nicht verschwinden. Wenn die Pandemie vorbei ist, wird es trotzdem noch jedes Jahr einige Covid-19-Patienten geben. Genauso wie es jedes Jahr eine Influenza-Saison gibt.

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Was glauben Sie, wie lange werden wir noch Maske tragen?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Wir sind sicherlich gut beraten, erst einmal vorsichtig zu bleiben. Lieber etwas länger Maske tragen, um schneller aus der Pandemie herauszukommen. Es würde mich nicht wundern, wenn es die Masken im Herbst und Winter noch braucht.

Corona-Pandemie beschleunigt neue Technologien

Was nehmen Sie für die Zukunft mit aus der Pandemieerfahrung?

Die Krise ist ein Katalysator. Den Schwung müssen wir in die Zukunft mitnehmen, um widerstandsfähiger zu werden. Der größte Erfolg ist die Entwicklung der Impfstoffe und die mRNA-Technologie, die auch in der Medikamentenforschung helfen wird. Dass die Vakzine wirklich bereits nach einem Jahr millionenfach verimpft werden, hätte ich niemals gedacht.

Wir haben im internationalen Vergleich auch ein wirklich gutes Gesundheitssystem und eine gute Versorgung. In der Krise wurden viele Dinge ad hoc auf die Beine gestellt. Gute Beispiele dafür sind die Entwicklung des Divi-Intensivregisters, das tagesaktuelle Zahlen liefert. Oder ein Projekt, bei dem kleinere Kliniken mit Covid-19-Patienten auch digital über telemedizinische Angebote von Universitätskliniken beraten werden konnten.

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Und was muss sich dringend ändern?

In der Krise hat sich gezeigt, dass das größte Defizit die fehlende Digitalisierung im Gesundheitswesen ist. Eine wichtige Lehre ist deshalb, dass es in Deutschland und Europa eine digital vernetzte Gesundheitsstruktur braucht. In Zukunft muss auch sichergestellt werden, dass es bei einer neuen Pandemie ausreichend Schutzausrüstung gibt, die im Idealfall auch in Europa produziert wird.

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