Schwindel: ein Sinneskonflikt im Gehirn – und was die Ursachen sein können
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Die Ursachen für Schwindel sind vielfältig, die Diagnose ist daher häufig äußerst schwierig.
© Quelle: Getty/iStock
Es ist früh am Morgen, der Wecker klingelt. Als der Patient sich umdreht, um ihn auszuschalten, befällt ihn ein heftiges Schwindelgefühl. Alles um ihn dreht sich wild, als säße er in einem Karussell oder in einer Achterbahn. Nach einigen Minuten fühlt er sich besser und kann aufstehen.
Wenn jemand mit solchen Symptomen in die Sprechstunde kommt, haben Schwindelfachleute schnell einen Verdacht: Wahrscheinlich handelt es sich um einen sogenannten gutartigen Lagerungsschwindel, der gerade bei älteren Menschen häufig auftritt. Doch oft lassen sich die Beschwerden nicht so leicht einordnen. „Schwindel ist ein facettenreiches Symptom, das viele Ursachen haben kann“, sagt Prof. Wolfgang Heide, Chefarzt der Neurologie am Allgemeinen Krankenhaus Celle und Sprecher der Kommission Neurootologie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Das Problem ist weit verbreitet. Schätzungsweise 30 Prozent aller Menschen in Deutschland leiden im Laufe ihres Lebens an mittelschwerem bis schwerem Schwindel. Mit dem Alter steigt das Risiko.
So gut wie jeder kennt das Gefühl, dass der Boden unter den Füßen auf einmal wankt, sich alles im Kopf dreht oder man wie auf Watte geht. Nehmen die Beschwerden zu, kann ein großer Leidensdruck entstehen: „Schwindel und Gleichgewichtsstörungen schränken bei täglichen Aktivitäten ein, machen dem Patienten Angst und vermindern somit die Lebensqualität“, sagt der Leiter der Schwindelambulanz des Zentrums für HNO Münster/Greven, Prof. Frank Schmäl. Problematisch gerade bei alten Leuten ist zudem die Sturzgefahr.
Ständig neue Informationen für die Balance
Um sich in Balance zu halten und im Raum zu orientieren, braucht das Gehirn ständig neue Informationen. Sie werden vom Auge, vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr sowie von speziellen Rezeptoren in Muskeln und Gelenken geliefert. „Schwindel entsteht meistens dann, wenn die Informationen von Gleichgewichtsorgan und Augen nicht übereinstimmen“, erklärt Schmäl. „Dann entsteht im Gehirn ein Sinneskonflikt.“ Die Probleme können aber auch darauf beruhen, dass es dem Gehirn nicht gelingt, die Informationen zu verarbeiten.
Leichte Schwindelgefühle vergehen oft von selbst und sind rasch vergessen. Bei starken Beschwerden, die länger anhalten oder wiederkehren, sollte man zum Arzt oder zur Ärztin gehen. Sie können ein Hinweis auf ernste Krankheiten, etwa einen Schlaganfall, sein: „Bei plötzlichem, anhaltenden Schwindel, den man so noch nie hatte, sollte man daher sofort einen Arzt, eventuell sogar einen Notarzt, rufen“, rät Heide. So stellte eine Gruppe von Wissenschaftlern um den japanischen Neurologen Ryosuke Doijiri fest, dass bei rund 10 Prozent der Patienten, die wegen isoliertem Schwindel oder Benommenheit ins Krankenhaus kamen, ein Schlaganfall vorlag.
Gleichgewichtsorgan im Innenohr kann häufig Ursache sein
Oft hängen die Probleme aber mit dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr zusammen – etwa beim gutartigen Lagerungsschwindel. Die Störung entwickelt sich, wenn sich dort Kalksteinchen lösen und in die Bogengänge geraten. Diese mit Flüssigkeit gefüllten Gänge spielen eine wichtige Rolle für den Gleichgewichtssinn: Die Sinneszellen darin erspüren, ob und wie der Kopf gedreht wird, und geben entsprechende Signale an das Gehirn weiter.
Bei bestimmten Bewegungen kommt es dazu, dass die Steinchen die Sinneszellen fälschlicherweise reizen. Da die Informationen nicht zu den anderen Wahrnehmungen passen, stellt sich ein – oft nur sekundenlanger – Drehschwindel ein. „Er ist unangenehm, aber harmlos“, sagt Heide. Meist lässt sich der Schwindel mit sogenannten Lagerungsmanövern gut behandeln: Dabei bewegt der Arzt Kopf und den Körper der Patientin oder des Patienten nach einem bestimmten Muster auf und ab, sodass die Partikel aus dem Bogengang hinausbefördert werden. Oft reicht schon eine einzige Behandlung, damit die Symptome verschwinden. Dauern sie an, kann der Patient oder die Patientin die Übung lernen und selbstständig durchführen.
Entzündung des Gleichgewichtsnervs oft Grund für Drehschwindel
Hinter anhaltendem Drehschwindel kann sich eine einseitige Störung des Gleichgewichtsorgans verbergen. Auslöser ist meist eine virale Entzündung des Gleichgewichtsnervs. Typischerweise leiden die Patientinnen und Patienten an starker Übelkeit und Erbrechen, haben Augenzittern und eine Fallneigung zur betroffenen Seite, wie Heide berichtet. „Sie werden in den ersten Tagen mit Medikamenten behandelt“, sagt der Neurologe. „Dann sollten sie aber bald mit einem vestibulären Training beginnen.“ Dabei wird durch gezielte Augen-, Kopf- und Körperbewegungen geübt, den Ausfall zu kompensieren. „Der Gleichgewichtssinn muss nämlich neu kalibriert werden.“
Daneben gibt es noch viele andere Störungen und Krankheiten, die mit Schwindel einhergehen; obendrein können Medikamente Benommenheit auslösen. Gerade bei Seniorinnen und Senioren kommen oft mehrere Faktoren zusammen. Um dem Auslöser rasch auf die Spur zu kommen, ist es wichtig, dass Patientinnen und Patienten sich gut beobachten und ihre Beschwerden genau beschreiben können. „In 70 Prozent der Fälle kann bei einer intensiven Befragung eine Verdachtsdiagnose gestellt werden, die dann durch entsprechende gründliche Untersuchungen verifiziert werden muss“, erklärt der HNO-Arzt und Schwindelexperte Schmäl. Ist die Ursache gefunden, kann Patienten und Patientinnen in vielen Fällen gut geholfen werden.
Funktioneller Schwindel wird vielfach nicht erkannt
Aber nicht immer wird die richtige Diagnose gestellt. So berichtet Heide: „In unserer Schwindelsprechstunde sind öfters Patienten, die jahrelang von Arzt zu Arzt geirrt sind.“ Gerade der sogenannte funktionelle Schwindel, für den es seit 2017 feste Diagnosekriterien gibt, werde häufig nicht erkannt. Dabei leiden die Betroffenen an starkem Schwankschwindel oder an Benommenheit, ohne dass sich eine organische Ursache finden lässt. Entscheidend ist oft ihre Vorgeschichte: Viele von ihnen haben eine Schwindelerkrankung – etwa eine Entzündung des Gleichgewichtsnervs – hinter sich und daher Probleme bei der Verarbeitung von Bewegungsreizen in aufrechter Position. Frank Schmäl sagt: „Es kann sein, dass sie aus Angst vor Schwindel ein Vermeidungsverhalten entwickeln.“ Neben Aufklärung hilft in solchen Fällen eine Desensibilisierung, bei der Patienten und Patientinnen lernen, Furcht einflößende Situationen zu meistern. Auch Medikamente und eine Verhaltenstherapie können nützlich sein. Ansonsten profitieren sie wie viele andere Schwindelpatienten und ‑patientinnen von einem Gleichgewichtstraining. Überhaupt sei körperliche Aktivität wichtig, betont der Neurologe Heide: „Das Schlimmste, was man tun kann, ist, sich zurückzuziehen und Bewegung zu meiden.“
Das können Patienten tun
Vor dem Arztbesuch: Um der Ursache rasch auf die Spur zu kommen, ist es wichtig, dass Patientinnen und Patienten ihre Beschwerden genau beschreiben können. Es geht um folgende Fragen:
- Wie äußern sich die Schwindelgefühle? Dreht sich alles im Kopf? Oder haben Sie das Gefühl, wie in einem Boot zu wanken oder wie in einem Lift nach oben oder unten gezogen zu werden? Oder sind Sie benommen und fühlen sich unsicher beim Gehen?
- Wie lange hält der Zustand an? Bessert er sich nach ein paar Minuten? Oder Stunden? Wiederholt er sich?
- In welchen Situationen treten die Schwindelgefühle auf? Kommen sie ganz spontan oder dann, wenn Sie den Kopf drehen? Beim Niesen oder Husten? Beim Laufen oder bei bestimmten Bewegungen? Oder nur im Dunkeln?
- Treten weitere Beschwerden auf? Etwa Doppelbilder und Lähmungen? Übelkeit und Erbrechen? Kopfweh? Hörprobleme?
- Es kann auch hilfreich sein, ein Schwindeltagebuch zu führen.
Training: Grundsätzlich sind Tanzen, Gymnastik, Yoga sowie körperliche Aktivitäten aller Art ein gutes Training für die Balance. Außerdem kann die Physiotherapie ein gezieltes Gleichgewichtstraining anbieten. Es hilft bei Gleichgewichtsstörungen im Alter oder bei Ausfällen im Gleichgewichtssystem. Adressen finden sie hier.
Weitere Informationen: Eine ausführliche Erklärung der Symptomatik, mögliche Ursachen und weitere Links bietet „Neurologen und Psychiater im Netz“. Informationen und Expertentipps gibt es auch bei der Deutschen Hirnstiftung.