Superspreader: Warum die Treiber der Corona-Pandemie ein Produkt des Zufalls sind
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/KKDG3O2GBRGNTGI2WIZ6XL7B6A.jpeg)
Drei Personen haben sich bei einer US-amerikanischen “Superspreaderin” in Garmisch-Partenkirchen mit dem Coronavirus infiziert.
© Quelle: Lino Mirgeler/dpa
Garmisch-Partenkirchen. Ein “Musterfall für Unvernunft”, so bezeichnete Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) das angebliche Superspreadingevent in Garmisch-Partenkirchen. Eine 26-jährige US-Amerikanerin, die in dem Ferienort lebt und arbeitet, soll sich am 8. September in mehreren Lokalen aufgehalten haben, obwohl sie Symptome einer Sars-CoV-2-Infektion zeigte und auf die Ergebnisse ihres Corona-Tests wartete. Die junge Frau stand in dem Verdacht, zahlreiche Menschen bei dieser Gaststättentour angesteckt zu haben.
Diese Behauptung konnte jedoch durch die am Wochenende durchgeführten Massentestungen widerlegt werden: Von rund 740 Corona-Tests waren in Garmisch-Partenkirchen gerade einmal drei positiv, wie Landrat Anton Speer (Freie Wähler) am Dienstag bekannt gab. Trotz dieser geringen Inzidenzfälle wird die junge Frau seit Tagen von Behörden, Politik und Medien als Superspreaderin betitelt. Was steckt eigentlich hinter diesem Begriff? Und wie werden Infizierte überhaupt zu Superspreadern?
Superspreader verursachen überdurchschnittlich viele Folgeinfektionen
“Superspreadingevents sind Ereignisse, bei denen eine infektiöse Person eine Anzahl an Menschen ansteckt, die deutlich über der durchschnittlichen Anzahl an Folgeinfektionen liegt”, schreibt das Robert-Koch-Institut in seinem Coronavirus-Steckbrief.
Wie viele Menschen eine mit Sars-CoV-2 infizierte Person durchschnittlich ansteckt, ermisst sich anhand des Reproduktionswertes, kurz R-Wert. Dieser liegt derzeit bei 1,00 – das bedeutet, ein Infizierter steckt im Mittel eine weitere Person an. Ab wie vielen weiteren Infektionen jemand als Superspreader gilt, ist nicht genau definiert.
Umstände sind entscheidend
Im Fall der “Superspreaderin” aus Garmisch-Partenkirchen sind gerade einmal drei Infektionen ermittelt worden, die im Zusammenhang mit der US-Amerikanerin stehen. Alle hatten sich in Lokalen aufgehalten, die die junge Frau aufgesucht hatte. Auch in dem Hotel für US-Streitkräfte und deren Familien, in dem die 26-Jährige arbeitet, waren bislang 25 Infektionen festgestellt worden. Ob jedoch die US-Amerikanerin die erste Infizierte im Hotel war und damit Ursprung des Infektionsherdes, konnte das Landratsamt noch nicht abschließend klären.
“Viele glauben, dass eine Person selber ein Superspreader ist, also jemand, der das Virus an unheimlich viele Leute verteilt, weil er oder sie aufgrund biologischer Besonderheiten mehr Viren ausscheidet – das ist aber nicht ganz richtig, glaube ich”, sagt Virologin Prof. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. “Es sind eher die Umstände, die jemanden zum Superspreader werden lassen.”
Superspreadingevents sind in gewissem Maß Zufallsereignisse
Hinzu kommt, dass Infizierte nicht unbedingt Symptome entwickeln müssen, trotzdem aber hoch infektiös sein können. Ein Beispiel: Hält sich eine unwissentlich infizierte Person X im Umkreis der Familie auf, ist die Zahl der maximalen Infizierten begrenzt und ein Superspreadingevent kaum möglich. Nimmt X jedoch an einer Demonstration teil, können sich dort viel mehr Menschen mit dem Coronavirus infizieren und ein Superspreadingevent auftreten. “Meist treffen mehrere Faktoren unglücklich aufeinander”, so Brinkmann.
In geschlossenen Räumen sind zum Beispiel die Aufenthaltsdauer und Aktivität entscheidende Komponenten. Also: Spricht oder schreit X, wodurch unterschiedliche Mengen an virenbeladenen Aerosolen im Raum freigesetzt werden? Und wie lange halten sich Personen in der Umgebung von X auf? Wenn man über Superspreadingevents redet, könne man auch ein bisschen von Zufall sprechen, meint Brinkmann.
Superspreader sind oftmals schwer zu ermitteln
Japanische Forscher hatten in einer Clusteranalyse zu möglichen Infektionspunkten mehr als 3000 Infektionsfälle untersucht und konnten 61 Fallgruppen feststellen, in denen sich die Corona-Erkrankten primär infizierten. In 22 Gruppen konnten sie zudem konkrete Personen als Superspreader ausmachen. Diese waren meist männlich (59 Prozent) und zwischen 20 und 39 Jahre alt.
Superspreader kann jeder sein.
Prof. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung
Diese Merkmale sind jedoch nicht allgemeingültig. “Superspreader kann jeder sein", macht Brinkmann klar. Superspreader zu ermitteln, die Ausgangspunkt eines Infektionsherdes sind, ist hingegen mit einigen Herausforderungen verbunden. Hilfreich sei in jedem Fall, das Virus zu sequenzieren, also das Erbgut des Virus aufzuschlüsseln.
Virensequenzierung hilft bei Rekonstruktion des Infektionsgeschehens
“Die Viren verändern sich. Wenn ein Infizierter eine andere Person X an einem Tag ansteckt, dann haben die Viren fast eine identische Signatur. Wenn die Person X sich aber woanders infiziert hat, dann ist die Signatur anders”, erklärt Brinkmann. “Das ist wie ein Text und dann kann ich abgleichen, ist der Text identisch oder gibt es kleine Unterschiede.”
Dieses Verfahren hat die Virologin auch eingesetzt, als sie mit einem Forscherteam den Corona-Ausbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies in Rheda-Wiedenbrück untersuchte. Dort hatten sich zwischen Anfang Juni und Ende Juli mehr als 2000 Angestellte mit Sars-CoV-2 infiziert. Die Viren zu sequenzieren ist nicht nur aufwendig, sondern auch teuer, deshalb wird diese Methode nicht bei jeder Untersuchung eines Infektionsgeschehens angewendet.
Letztendlich entscheidet auch bei der Ermittlung von Superspreadern manchmal nur der Zufall über Erfolg und Misserfolg. So können beispielsweise durch Befragungen von Betroffenen die zeitlichen Verläufe rekonstruiert werden. Aber: “Ich bin immer davon abhängig, was die Leute angeben.”