„Unkoordiniertes Nebeneinander“: Experten fordern konsequentere Corona-Strategie

„Im Moment schauen wir zu, wie die Infektionen steigen, bis wir irgendwann mit harten Maßnahmen reagieren müssen“, sagte die Wissenschaftlerin Melanie Brinkmann.

„Im Moment schauen wir zu, wie die Infektionen steigen, bis wir irgendwann mit harten Maßnahmen reagieren müssen“, sagte die Wissenschaftlerin Melanie Brinkmann.

Endlich gibt es sichtbare Erfolge im Lockdown. Die Sieben-Tage-Inzidenz befindet sich deutschlandweit erstmals seit Ende Oktober um den Wert 100, auch die Zahl der offiziell registrierten Corona-Neuinfektionen durch die Gesundheitsämter fällt beständig. Das politisch festgelegte Ziel ist damit nicht mehr in ganz so weiter Ferne: Weniger als 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in einer Woche.

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Erste Rufe nach Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen und Schulöffnungen sind bereits aus Politik und Wirtschaft zu hören. Experten warnen allerdings vehement davor, zu früh und zu unkontrolliert zu öffnen und den mühsam erkämpften Erfolg bei der Viruskontrolle sofort wieder zu verspielen. Mehr noch, sie fordern von Politikern in Deutschland und Europa einen kompletten Strategiewechsel mit nachhaltigeren Zielen. Nur so seien langfristig mehr Freiheiten möglich, im Privaten wie in der Wirtschaft. Und bis genug Menschen vor Sars-CoV-2 geschützt sind, könnte es bei der derzeitigen Impfgeschwindigkeit noch lange dauern – Schätzungen zufolge mindestens bis Ende 2021.

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Klarere Ziele forderte deshalb unter anderem die Virologin Melanie Brinkmann bei einer Pressekonferenz des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) am Donnerstag. Es brauche dringend eine positiv formulierte Vision für ganz Europa. „Im Moment schauen wir zu, wie die Infektionen steigen, bis wir irgendwann mit harten Maßnahmen reagieren müssen“, sagte die Wissenschaftlerin, die bereits in den vergangenen Wochen mit einem No-Covid-Strategiewechsel die Position einer Reihe von Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen in die Öffentlichkeit kommunizierte.

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Der Konsens: Das derzeitige Pandemiemanagement sei in Deutschland und Europa reaktiv, das Eingreifen bei steigenden Fallzahlen zu spät, die Maßnahmen zu inkonsequent – und damit nicht förderlich, um die Pandemie auf lange Sicht in den Griff zu bekommen.

Wirtschaft einfach öffnen? Experten in Sorge

Allein ist Melanie Brinkmann mit ihrer Kritik nicht. Neben Virologen und Physikern wie etwa Viola Priesemann, die Zukunftsszenarien anhand von Modellen errechnen, fordern auch Forscher aus der Wirtschaft ein Umdenken in der Politik. Es gebe angesichts der derzeitigen Stop-and-go-Strategie auch in der Wirtschaft enorme Unsicherheiten, bemängelte Clemens Fuest bei der Ifo-Konferenz. „Die Vorstellung, man könne die Wirtschaft einfach öffnen, obwohl ein gefährliches Virus grassiert, ist eine Illusion“, betonte der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Wirtschaft ist nicht zu retten, indem wir sie trotz Infektionen einfach öffnen.

Clemens Fuest,

Ifo-Präsident

Ein „unkoordiniertes Nebeneinander der Staaten“ in Europa, in den Bundesländern und auch auf Landkreisebene sei dabei ebenso wenig hilfreich. Studien zeigten inzwischen zudem sehr klar, dass der Einbruch beim Konsum nur zu 20 Prozent durch den Lockdown verursacht werde, zu 80 Prozent aber durch das Virus selbst, das viele Menschen von den Einkaufsläden fernhalte. „Die Wirtschaft ist nicht zu retten, indem wir sie trotz Infektionen einfach öffnen“, so Fuest. Es brauche intelligente Öffnungen und dafür beispielsweise auch mehr flächendeckende Schnelltests an Arbeitsstätten und in Schulen.

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Vier weitere Bausteine sehen Brinkmann, Fuest und Priesemann als zentral an für eine europaweit einheitliche Strategie. Mit weiteren Wissenschaftlern haben sie diese Woche einen Aktionsplan vorgelegt. Die darin formulierten vier wesentlichen Ziele:

1. Fallzahlen niedrig halten – präventiv

„Eine virenfreie Welt werden wir nicht haben“, ist sich Brinkmann sicher. „Aber es ist möglich, dass wir das Virus kontrollieren – und nicht dieses uns kontrollieren zu lassen.“ Möglichst niedrige Infektionszahlen in der Gesamtbevölkerung seien da der beste Weg, auch um besonders gefährdete Personengruppen zu schützen. Gut sei beispielsweise eine Sieben-Tage-Inzidenz um den Wert von zehn.

Je mehr Länder die Fallzahlen gut unter Kontrolle haben, desto besser kann man auch reisen.

Melanie Brinkmann,

Virologin

Auch die Dunkelziffer sei dadurch viel niedriger, betonte Viola Priesemann die Vorzüge einer solchen Strategie. Und: „Je mehr Länder die Fallzahlen gut unter Kontrolle haben, desto besser kann man auch reisen.“ Es sei dabei wichtig, wie im Sommer 2020 in lokalen Hotspots frühzeitig mit Maßnahmen gegenzusteuern, um nicht wieder die Kontrolle zu verlieren. Schnelltests könnten bei niedriger Inzidenz im Alltag auch besser helfen, unerkannte Infektionen aufzuspüren. Und das Drücken der Fallzahlen auf ein möglichst niedriges Niveau statt frühzeitigem Öffnen mehrerer Bereiche habe einen weiteren klaren Vorteil: Bei einem R-Wert von 0,7 würden die Fallzahlen in einer Woche halbiert, bei einem R-Wert von 0,9 dauere das einen Monat. „Es gibt keinen Mittelweg“, betont die Datenkennerin.

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2. Blindflug bei neuen Virusvarianten vermeiden

Inzwischen wird bei der britischen Virusvariante B.1.1.7. epidemiologischen Studien zufolge ein erhöhter R-Wert von 0,3 bis 0,4 geschätzt. „Das ist immer noch massiv“, sagt Physikerin Priesemann. Sei die Mutation in Deutschland dominant, könnte das dann immer noch innerhalb kurzer Zeit zur Verdopplung der Fallzahlen führen. Das gute Signal sei aber: In Irland hätten sich die Fallzahlen gerade wieder halbiert – trotz neuer Varianten im Land. „Das stimmt uns extrem optimistisch“, sagt auch Brinkmann. Kontakteinschränkungen helfen also auch bei diesen Varianten. Alles hänge am Ende von der Motivation und dem Verhalten der Menschen ab. Und die lasse sich durch positiv formulierte Ziele eher erhalten als durch Verbote.

Brinkmann zufolge wird in Deutschland weiterhin noch nicht genug sequenziert und getestet, um die Varianten und das Ausmaß ihrer Verbreitung zu entdecken. „Wir sind hier absolut im Blindflug“, sagte die Virologin beim Ifo-Treffen. „Wir wissen nicht, was im eigenen Land genau passiert.“ Klar sei aber, dass wenn erneut die Infektionen laufen gelassen würde, sich ansteckendere Varianten in Deutschland durchsetzen.

3. Coronavirus an den Grenzen stoppen

„Die Reduzierung von Inlands- und grenzüberschreitenden Reisen kann den Gesamtanstieg verlangsamen“, heißt es im Positionspapier. Den Reiseverkehr innerhalb und über die Landesgrenzen hinweg soll der Stellungnahme der Wissenschaftler zufolge reduziert werden und Tests und Quarantäne für grenzüberschreitende Reisende verlangt. „Tests sollten 24 Stunden vor der Reise und sieben bis zehn Tage nach der Reise verlangt werden“, heißt es. Alle Personen müssten sich in Quarantäne begeben, die aus Ländern mit hoher lokaler Inzidenz oder Ländern mit besorgniserregenden Varianten einreisen.

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4. Impfen, impfen, impfen

Die Impfungen gegen Covid-19 sollten beschleunigt werden, fordern die Forscher. Die Versorgung, die Bereitstellung und Zuteilung soll durch gegenseitiges Lernen und internationale Zusammenarbeit verbessert werden. Dazu zählten auch Bemühungen, um die Produktion von Impfstoffen zu erhöhen. Infektionen unter geimpften Personen sollten überwacht werden, um eine mögliche Reinfektion mit neuen Varianten oder einen mangelhaften Umgang mit den Impfungen so schnell wie möglich zu erkennen.

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