„1917“: Kein Platz für typische Helden
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Den Tod im Nacken: George MacKay als Soldat Schofield in einer Szene des Kinofilms „1917“.
© Quelle: Universal Pictures And Dreamwork
Der Weg durchs Niemandsland zu den deutschen Stellungen ist schnell erklärt: Über eine Holzleiter sollen die beiden Meldegänger mit dem überlebenswichtigen Auftrag aus den Schützengräben klettern, dann vorbei an dem stinkenden Pferdekadaver (schon wegen der Fliegen nicht zu verfehlen!) und neben der im Stacheldraht verkeilten Leiche den schmalen Durchgang suchen.
Das Schwierigste für die beiden britischen Soldaten Schofield (George MacKay) und Blake (Dean-Charles Chapman) dürfte etwas anderes sein: Sie müssen den Kugeln der Deutschen entgehen, die gestern noch auf alles gefeuert haben, was sich bewegt. Über Nacht soll der Feind abgezogen sein. So heißt es jedenfalls.
Warnung vor einer tödlichen Falle
Der Auftrag von Schofield und Blake lautet: Sie sollen eine britische Einheit davor warnen, am nächsten Morgen in eine tödliche Falle der Deutschen zu stürmen. Das Leben von 1600 britischen Soldaten hängt allein von Schofield und Blake ab. Einer der 1600 ist Blakes Bruder. Ein Himmelfahrtskommando wartet auf die beiden.
In Sam Mendes’ Kriegsdrama „1917“, soeben geadelt mit zwei Golden Globes für das beste Drama und die beste Regie, heften sich die Kinozuschauer über knapp zwei Kinostunden an die Fersen der beiden – und werden so Zeuge eines apokalyptischen Trips.
In den beiden Bond-Filmen „Skyfall“ (2012) und „Spectre“ (2015) hat der britische Regisseur schon viel größere Massen an Mensch und Material bewegt und mit „Jarhead – Willkommen im Dreck“ (2005) auch einen Kriegsfilm gedreht, genauso aber mit der feinen Gesellschaftssatire „American Beauty“ (2000, mit dem damals gefeierten Kevin Spacey) den Regieoscar gewonnen. Hier muss er verheerende Gewalt und ganz Persönliches miteinander verbinden.
Die Zeit des Geschehens ist im Filmtitel angegeben: „1917“. Wir befinden uns im ländlichen Frankreich. Briten und Deutsche haben sich vor ewigen Zeiten in ihren Stellungen vergraben und ringen um jeden Zentimeter Boden. Und so sieht die zermarterte Erde auch aus.
Schlammige Kraterlandschaft
Dort, wo jetzt im Frühjahr Gräser und Blumen blühen müssten, bewegen sich Schofield und Blake durch eine schlammige Kraterlandschaft. Hier fühlen sich nur Krähen und Ratten wohl, die sich an verwesendem Fleisch gütlich tun. Dazwischen: ein zerschossener Bauernhof und die gezackt aufragenden Ruinen eines Dorfs. Hieronymus Bosch würde gewiss passende Motive für seine Schreckensbilder finden.
Wir Zuschauer sind nahe dran an den Meldegängern, in den engen Schützengräben genauso wie in den deutschen Bunkern und später auch in einem Fluss, in dem sich Leichen zum Staudamm türmen. Noch auf engstem Raum umkreist die Kamera die beiden – und beobachtet das große Sterben dann wieder aus der Ferne.
Kameramann Deakins ist Oscarfavorit
14-mal war Kameramann Roger Deakins für den Oscar nominiert, bis er ihn für „Blade Runner 2049“ (2017) endlich gewann. Hier stellt er wiederum seine Kunstfertigkeit unter Beweis und gilt als Oscarfavorit: Die Odyssee der britischen Soldaten sieht aus, als sei sie in einer einzigen Einstellung gefilmt. Jedenfalls lässt sich kein Schnitt erkennen.
Mendes und sein Team spielen jedoch nur mit dieser Methode. Andere Regisseure haben sie eisern durchgezogen, etwa der Russe Alexander Sokurow bei seiner Reise durch die Eremitage und gleichzeitig durch die russische Historie („Russian Ark“, 2002), oder auch Sebastian Schipper im Banküberfallfilm „Victoria“ (2015).
Gerade bei Sokurow litt die Komplexität der Geschichte allerdings unter den strengen technischen Vorgaben. So ganz ist auch Mendes dieser Gefahr nicht entgangen.
Menschliches Maß für Helden
Demonstrativ wird die Sinnlosigkeit des Krieges ausgestellt. Kaum ein Uniformierter, der den Wahnsinn des Stellungskriegs nicht kommentieren würde. „Es gibt nur einen Weg, diesen Krieg zu beenden“, sagt ein Befehlshaber, gespielt von Benedict Cumberbatch. „Kämpfen bis zum letzten Mann.“ Für typische Helden ist in diesem Film kein Platz: Sie sind auf menschliches Maß zurechtgestutzt.
Mendes hat „1917“ seinem Großvater gewidmet, der ihm vom Grauen des Ersten Weltkriegs erzählt hat. Der Film zollt den Opfern Tribut. Stanley Kubricks Kriegsfilm „Wege zum Ruhm“ (1957, mit Kirk Douglas) kommt einem in den Sinn – doch kam Kubricks Werk mit viel mehr Furor daher.
Vielleicht ist „1917“ trotz aller technischer Brillanz ein wenig zu einfach gestrickt. Andererseits kann man gar nicht oft genug davon erzählen, welches Verbrechen an der Menschheit jeder Krieg darstellt – gerade jetzt, da auf diesem Planeten wieder besinnungslos aufgerüstet wird.
Inzwischen wurden die Academy Awards in Hollywood verliehen. Der Oscar für die "beste Kamera" geht an: Roger Deakins für „1917“.
„1917“, Regie: Sam Mendes, mit George MacKay, Dean-Charles Chapman, 110 Minuten, FSK 12