Beinahe dokumentarisch – und ganz sinnlich

Berlinale-Sieger im Kino: In „Alcarràs“ dreht sich alles um eine letzte Pfirsichernte

Die ganze Familie hilft mit bei der Ernte: Eine Szene des Films „Alcarràs“.

Die ganze Familie hilft mit bei der Ernte: Eine Szene des Films „Alcarràs“.

Auf den ersten Blick ein Paradies: Wie die Pfirsiche orangerot im grünen Hain leuchten, bereit für die bevorstehende Ernte. Wie sich die Kinder über den süßen Melonensaft freuen, den sie direkt aus der Frucht schlürfen – verbotenerweise beim Nachbarn, weshalb dieser sogleich schreiend angelaufen kommt. Und wie respektvoll der Großvater jede einzelne Feige von ihrem Stiel am Baum löst, bevor er sie in seinem Korb platziert.

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Was wir dann in knapp zwei Kinostunden in Carla Simóns Berlinale-Siegerfilm „Alcarràs“ sehen, ist die angekündigte Vertreibung aus diesem Paradies im Nordosten Spaniens. Seit Generationen bebaut die Familie Solé das Land in Katalonien, mehr oder weniger im Einklang mit der Natur und deren Bedürfnissen. Nur den gefräßigen Kaninchen schickt Vater Quimet (Jordi Pujol Dolcet) jede Ladung Schrot hinterher, die er im Lauf seiner Flinte hat. Nach der Ernte dürften die Kaninchen vor ihm Ruhe haben. Und das ist nicht mehr lange hin.

Der junge Großgrundbesitzer Pin­yol will das Land in einen Solarpark verwandeln. Das bringe mehr Geld und mache weniger Arbeit, sagt er. Die neuen Zeiten ziehen bereits unverkennbar herauf: Oben am Stausee bedecken die Fotovoltaikanlagen bald wie eine glitzernde Rüstung den Boden. Das pittoreske Autowrack, in dem die kleine Iris mit ihren Cousins Pau und Pere zu ausgelassenen Fantasiereisen in den Weltraum aufgebrochen ist, räumt ein Bagger kurzerhand ab.

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Großvater Rogelio Solé (Josep Abad) hat keinen schriftlichen Vertrag als Pächter. Das sei bislang nicht nötig gewesen, beteuert er beim zunehmend verzweifelten Blättern in vergilbten Unterlagen. Seine Familie hatte das Land nach seinen Worten per Handschlag zugesprochen bekommen als Dank dafür, dass sie die Pin­yols während des Spanischen Bürgerkrieges vor ihren Verfolgern versteckt hatten. Und nun?

Nun machen die Solés erst mal weiter, als wäre nichts passiert. Beinahe dokumentarisch mutet an, wie die 1986 in Barcelona geborene Regisseurin Simón („Fridas Sommer“) den Alltag der Familie beobachtet und sich so selbstverständlich zwischen den Mitgliedern bewegt, als gehöre sie dazu.

Mit Laiendarstellern gedreht

Tatsächlich hat Simón mit Laiendarstellern gedreht. Sie selbst ist auf einer Pfirsichfarm aufgewachsen – und zwar in dieser Ecke Spaniens, auch wenn ihrer Familie dort ein ähnliches Schicksal wie den Solés erspart blieb.

Von früh bis spät dreht sich alles um die Pfirsiche – um die Bewässerung der empfindlichen Bäume, um die ewig defekten, altersschwachen Traktoren, um die aus Afrika stammenden Flüchtlinge, die Quimet von der Straße weg als billige Erntehelfer holt. Die Verbundenheit mit dieser Gegend ist in jedem Moment spürbar.

Zugegeben: Ein wirklicher Garten Eden war dieses Stückchen Land schon vor der Räumungsankündigung nicht – zumal auch die Preise für die mit so viel Schweiß produzierten Pfirsiche tief im Keller sind. Einmal brechen die Bauern der Region zum gemeinsamen Protest in die Stadt auf. Unter riesigen Treckerrädern werden die Früchte bei der Demonstration provokativ zermalmt – ein Bild der Zerstörung, das nicht nur Landwirte schmerzt.

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Ohrfeigen für die Männer

Aber mit solchen Widrigkeiten sind die Solés bislang leidlich klargekommen. Alle, vom immer stiller werdenden Großvater bis zu den abenteuerlustigen Kindern, packen nach ihren Möglichkeiten und Kräften mit an. Quimet müht und plagt sich trotz ständiger Rückenschmerzen von früh bis spät. Trotz ärztlicher Verordnung hält er es im Bett nicht aus. Nur die Arbeit scheint ihn aufrechtzuerhalten.

Seine Frau Dolors (Anna Otín) organisiert im Hintergrund die Geschicke der Familie. Als Quimet mal wieder ungerecht zu seinem ältesten Sohn Roger (Albert Bosch) ist, verteilt sie ohne jegliche Ankündigung Ohrfeigen an beide Männer. Es sind die Frauen, die sich innerlich längst auf das Kommende eingestellt haben. Quimet macht bockig weiter, als könne er die Zeit aufhalten, solange er sie nicht zur Kenntnis nimmt.

Doch so wie sich in der lastenden Sommerhitze ab und an düstere Wolkengebirge über Haus und Hügel auftürmen, so wächst beständig der Druck auf die Familie. Nur selten gelingt es, die düsteren Zukunftsaussichten zu verdrängen, etwa wenn am Wochenende nach getaner Arbeit gemeinsam gegrillt wird. Jeder, der nicht aufpasst, landet ruckzuck im kleinen Pool. Aber schon beim Sommerfest im Dorf kann sich Teenager Mariona (Xènia Roset) nicht mehr aufraffen, ihre so lange geprobte Tanzdarbietung aufzuführen.

Könnte die heraufziehende Katastrophe die Familie auseinanderreißen, die doch bislang füreinander einsteht? Oder naht doch noch von irgendwo Rettung? Die Regisseurin erzählt von zerbrechenden Traditionen und unaufhaltsamem Wandel: Der Berlinale-Sieger „Alcarràs“ ist eine traurig-schöne Geschichte vom Abschied, nach dem etwas gänzlich Neues beginnt.

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„Alcarràs – die letzte Ernte“, Regie: Carla Simón, mit Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín, Josep Abad, 119 Minuten, FSK 12

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