Autorin Nora Bossong: Was meine Generation besser kann als die Fridays-for-Future-Aktivisten
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Jeden Tag drei Stunden Zeit zum Schreiben: Die Schriftstellerin Nora Bossong hält es bei der Arbeitsweise mit Thomas Mann.
© Quelle: Heike Steiweg
Hannover/Berlin. Frau Bossong, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie: Das Motto Ihrer Generation der zwischen 1975 und 1985 Geborenen könnte lauten „Alles regelt sich“. Wann haben Sie erkannt, dass sich doch nicht alles regelt?
Mit voller Wucht habe ich das erst in meinen Dreißigern gemerkt, auch wenn ich vorher schon hätte sehen können, dass dieses Mantra nicht aufgeht. 9/11 zum Beispiel hat uns alle mit einer Verletzlichkeit des Westens konfrontiert. Endgültig habe ich die Hoffnung, dass dieses „Alles regelt sich“ wahr sein möge, mit der Pandemie aufgegeben. Es war ohnehin nur eine Art Schutzglauben. Mit der Pandemie habe ich aber auch begriffen, dass es ein großer Befreiungsschlag sein kann, wenn man sich eingesteht: Dieses Motto stimmt nicht. In dem Moment beginnt man, sich anders zu verhalten, anders in eine Welt hinein zu handeln, in der eben nicht alles gerade noch mal gut gehen wird. Man denkt anders über Dinge nach und handelt entschiedener.
Aber Sie haben doch schon als Schülerin entschieden gehandelt: In Ihrem Buch „Die Geschmeidigen“ schildern Sie, wie Sie sich für Greenpeace und gegen Atomkraft engagiert haben. Vermutlich haben Sie doch gesehen, dass vieles im Argen liegt.
Das „Im Argen liegen“ und das „Alles regelt sich“ widerspricht sich nicht unbedingt. Es gab die grundsätzliche Zuversicht: Man demonstriert oder besetzt einen Bohrturm, und dadurch wird sich schon umweltpolitisch alles regeln. Außerdem habe ich eine für meine Generation typische Entwicklung gemacht: Mein umweltpolitisches Engagement erstarb mit dem Wechsel in das Erwachsenenleben. Dieser Rückzug ins Private hatte, glaube ich, stark mit 9/11 zu tun, weil die Dinge plötzlich so unüberschaubar wurden. Vorher herrschte das Gefühl vor: Es passieren schreckliche Dinge, aber am Ende wird es noch einmal gut gehen – zumindest in der scheinbar heilen Welt Westeuropas.
Über dieses umweltpolitische Engagement schreiben Sie heute, dass Sie Ihre eigenen Motive zu wenig überprüft hätten: „Wir erbten die Ideen und Ideologien der Eltern“. Ist das schlimm?
Wir haben keinen großen Generationskonflikt durchgemacht, sondern waren fast ein bisschen mit unseren Eltern befreundet. Es gab keine Auseinandersetzung, wie ihn die 68er mit ihren vom Nationalsozialismus geprägten Eltern erlebt hatten oder wie man sie jetzt bei Fridays for Future erlebt. Greta Thunberg hat in ihrer „How dare you“-Rede ja auch die Eltern- und Großelterngeneration angegriffen. Das blieb bei meiner Generation aus und hat schon etwas Langweiliges und Biederes. Die Freundinnen, mit denen ich auf Anti-AKW-Demos gegangen bin, kamen alle aus grünen Elternhäusern. Auf den Demos haben wir unsere Eltern und Lehrer getroffen. Wenn man die eigenen Positionen nicht in Abgrenzung zu denen der Eltern findet, braucht es einfach länger – und es kann sogar sein, dass man sie nie findet.
Mit welchen Konsequenzen?
Ich würde meiner Generation schon vorwerfen, dass sich viele als Erwachsene ins Private zurückgezogen haben. Um es überspitzt zu sagen: Man interessiert sich nicht mehr für die Gesellschaft, sondern für die optimale Erziehung der eigenen Kinder. Man kämpft nicht mehr für eine bessere Welt, sondern für einen besseren Lebenslauf. Dazu kommt, dass sich seit unseren frühen Erwachsenenjahren eine Institutionsmüdigkeit breitmachte, mitunter sogar ein Ressentiment gegenüber demokratischen und rechtsstaatlichen Einrichtungen, und das nicht nur an den extremen Rändern. Die profitieren aber heute davon.
Sie bezeichnen Ihre Generation als geschmeidig. Was macht dieser Begriff für Sie aus?
In der Tanzstunde mag es positiv sein, wenn jemand geschmeidig übers Parkett gleitet, in der Politik ist das Wort eher negativ konnotiert: Dann gilt der oder die Geschmeidige als zu glatt, vielleicht sogar als opportunistisch. Doch der Begriff hat auch etwas Positives: Geschmeidig ist man, wenn man es schafft, in unterschiedlichen Situationen souverän zu bleiben oder zumindest den Anschein der Souveränität zu wahren. Und wenn man seine eigene Position gewandt vorbringt.
Vertrauen Sie den geschmeidigen Politikern und Politikerinnen Ihrer Generation?
Die Frage ist erst einmal, was Vertrauen in der Politik bedeutet. Machtkämpfe sind schließlich kein Kuschelkurs. Aber die gehören dazu: Wenn man Macht verwalten will, muss man auch um sie kämpfen. Was ich aber an dieser Generation beobachte, ist eine große Begeisterung für Politik – das ist nicht mehr diese Starre und Dröge, sondern etwas Agileres. Und ich glaube: Diese Generation hat wirklich verstanden, dass es nicht mehr länger nur um Tagespolitik oder eine Politik für das nächste Jahr oder die nächste Legislaturperiode gehen kann, sondern dass ein Blick in eine etwas weitere Zukunft notwendig ist. Ich möchte nicht von Utopie reden, aber vielleicht von einer Vision für die nächsten 20 Jahre. Das Aufzeigen von Visionen hat ja auch etwas Sinnstiftendes.
Trauen Sie das Entwerfen von Visionen auch dem SPD-Co-Vorsitzenden Lars Klingbeil zu? Sie beschreiben ihn als „sympathisch, aber etwas farblos“.
Ich glaube, dass Klingbeil sehr gut unterschiedliche Positionen zusammenbinden kann. Das erkennt man am Bundestagswahlkampf, an dem er maßgeblich mitgewirkt hat. Und auch er hat eine Idee davon, dass das Stückwerk der Alltagspolitik nicht ausreicht, sondern dass man eine perspektivische Politik gestalten muss – und dass die SPD eine Neudefinition braucht, was Sozialdemokratie in den 2020er-Jahren ist.
Und wo sehen Sie die Stärken von FDP-Finanzminister Christian Lindner?
Er hat seine Partei durch eine tiefe Talfahrt manövriert. Während der vier Oppositionsjahre haben viele die Partei schon totgeglaubt und ordentlich Häme über ihn ausgekippt. Er hat sich nicht beirren lassen. Diese Beharrlichkeit muss ihm erst mal jemand aus seiner Generation nachmachen. Zudem ist er rhetorisch der Brillanteste seiner Generation, er brennt für Politik und kann das auch vermitteln. Daran muss er sich aber auch messen lassen, wenn er mal danebenliegt. Ein leicht anzüglicher Witz unterläuft ihm nicht einfach so, dafür ist er zu gut.
Sie haben mit Klingbeil, Lindner und 23 weiteren Menschen dieser Generation gesprochen, darunter die ehemalige Siemens-Managerin Rosa Riera und die frühere Luftwaffenpilotin Nicola Winter. Was ist das Verbindende Ihrer Gesprächspartner und -partnerinnen? Sind tatsächlich alle geschmeidig?
Bei den Politikern und Politikerinnen kann man sagen, dass durch die sozialen Medien das Geschmeidige noch zugenommen hat. Das ist eine ganz neue Art der Darstellung, mit Licht- und Schattenseiten: Letztlich will ich ja Inhalte haben und nicht nur ein schickes Schwarz-Weiß-Foto. Deutlich ist aber bei allen, dass sie eine längerfristige Perspektive einnehmen, auch im Bereich der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur. Dazu eint alle, dass sie lagerübergreifend denken. Das zeigt sich auch in der neuen Ampelkoalition, wo man nicht mehr nur nach der eigenen Klientel schaut, sondern die Probleme gemeinsam angeht. Und diese Generation hat verstanden, dass die Klimafrage an erster Stelle steht – auch wenn jede Gruppe darauf andere Antworten hat.
Aber muss man tatsächlich wendig sein, um einen – wie Sie es nennen – „rapiden und zugleich sanften Wandel“ zu schaffen?
Ich glaube, dass die Fähigkeit zum Moderieren, zum Verbinden wichtig ist, gerade im Kontrast zur Fridays-for-Future-Generation, die einen viel extremeren Wandel will. Die Ziele von Fridays for Future unterstütze ich, finde aber manche radikale Forderung problematisch. Wenn Luisa Neubauer in einer Talkshow sitzt und jedes Gegenargument mit dem Hinweis ausschlägt, dass dann die Welt untergeht, ist das für mich kein Dialog. Sie geht aus solchen Diskussionen als moralische, weltrettende Gewinnerin raus, aber wenn man den Blick monothematisch erstarren lässt, übersieht man auch Zusammenhänge. Die Energiewende ist nicht frei von sozialen Problemen, auch sicherheitspolitische Aspekte spielen mit hinein. Die jüngere Generation kommt mit einer großen Vehemenz, aber auch altklug daher. Es ist richtig, dass Greta Thunberg uns allen ihr „How dare you“ entgegengeschleudert hat. Ihre Generation sollte aber nicht in Selbstgerechtigkeit verfallen. Meine Generation ist zumindest darin stärker, dass sie relativ ideologiefrei agieren kann, einen gewissen Pragmatismus hat und tatsächlich sanfter ist.
Wo sehen Sie in diesem Prozess Ihre Rolle? In einem Facebook-Post haben Sie geschrieben, dass Sie sich stärker der Politik zuwenden wollen. Wollen Sie sich von der Literatur verabschieden?
Ich veröffentliche seit mehr als 15 Jahren Bücher. Auch wenn alle meine Romane einen gesellschaftspolitischen Hintergrund haben, bleibt das natürlich ein indirekter Weg der politischen Einmischung, und ich habe schon Lust, mich konkreter zu engagieren, wie auch immer das aussehen wird. Für mich ist das aber erst mal kein Entweder-oder.
Wünschen Sie sich einen Parlamentspoeten oder eine Parlamentspoetin, wie es die Autorinnen Mithu Sanyal und Simone Buchholz und der Autor Dmitrij Kapitelman vor Kurzem gefordert haben?
Auf gar keinen Fall! Eine grauenhafte Idee! Wenn jemand sich politisch interessiert und das mit lyrischen Mitteln umsetzen will, wird diese Person in Deutschland von niemandem daran gehindert. Man kann sich auch ins Parlament setzen und darüber schreiben. Wir brauchen nicht noch ein Pöstchen.
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Nora Bossong engagiert sich: Schauspielerin Maria Furtwängler (von links), Janina Kugel, Ex-Nationalspielerin Katja Kraus, Bossong und Soziologin Jutta Allmendinger setzen sich mit der Kampagne #ichwill für mehr Frauen in Führungspositionen ein.
© Quelle: dpa
Sie brechen in Ihrem Buch eine Lanze für Günter Grass und Heinrich Böll, deren politisches Engagement viele Autoren und Leser unangenehm berührt hat. Ist die Verbindung zwischen Kunst und Politik heute – Jahrzehnte nach Grass‘ und Bölls Engagement für die SPD – wieder wünschenswert?
Wenn man an Grass und Böll denkt, taucht ja bei vielen vor dem inneren Auge das Bild der Pfeife rauchenden alten Männer auf irgendeiner SPD-Bühne auf. Das hat eine sehr bundesrepublikanisch geprägte, verstaubte Patina. Dazu kommt bei Grass seine verheimlichte Vergangenheit bei der Waffen-SS. Zudem läuft man bei politisch engagierter Literatur Gefahr, dass sie schnell altern kann und bestimmte Formate 20 Jahre später überhaupt nicht mehr passen. Aber die Rolle des öffentlichen Intellektuellen ist wichtig. Das heißt: Es geht darum, immer wieder neu darüber nachzudenken, wie diese Rolle aussehen kann. Ich wünsche mir Wachheit und politisches Reflexionsvermögen von Menschen, deren Stimme schon dadurch, dass sie mit Büchern in die Öffentlichkeit treten, mehr gehört wird als die anderer.
Sind Ihre Romane wie „Webers Protokoll“ über einen Diplomaten im Nationalsozialismus oder „Schutzzone“, in dem es auch um die UN und den Völkermord in Burundi geht, Einladungen zum Nachdenken und Diskutieren?
Das wünsche ich mir von meinen Texten. Ich weiß aber auch, dass ich mit meinen Romanen natürlich nur eine bestimmte Zielgruppe erreiche. Aber es geht es mir auch gar nicht so sehr darum, was ich persönlich mache, sondern generell um ein aktives Handeln, dem ein politisches Denken vorausgeht. Das ist notwendig, um aus dieser Depression herauszukommen, die die Gesellschaft gerade stark prägt. Dieses aktuelle Ohnmachtsgefühl können wir nur überwinden, wenn wir uns unserer Fähigkeit zum politischen Handeln bewusst werden. Egal, wie jeder und jede das für sich ausformt. Das Handeln ermöglicht einem auch, wieder mit Freude an die Zukunft zu denken. Das ist vielen von uns verloren gegangen: Schon vor der Pandemie haben ja immer mehr Menschen die Zukunft vor allem als Bedrohung empfunden.
Das ist Nora Bossong
Sie war noch keine 20, als sie 2001 ein Stipendium für das Literatur-Labor Wolfenbüttel erhielt. Im selben Jahr gewann die 1982 in Bremen geborene Nora Bossong das Treffen junger Autoren. In Leipzig studierte sie am Deutschen Literaturinstitut und in Berlin, Potsdam und Rom Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik. Bossong debütierte 2006 mit dem Roman „Gegend“ und veröffentlicht seitdem regelmäßig Romane und Lyrikbände wie „Reglose Jagd. Gedichte“ und „Sommer vor den Mauern. Gedichte“. Die Tochter eines Sozialwissenschaftlers erzählt in dem Roman „36,9°“ von Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. In „Webers Protokoll“ geht es um einen deutschen Diplomaten während der Zeit des Nationalsozialismus und in „Schutzzone“, erschienen 2019, um eine junge UN-Mitarbeiterin und den Völkermord in Burundi. Gerade ist Nora Bossongs Sachbuch „Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens“ (Ullstein-Verlag) erschienen.