Bargeldlos zahlen – ein Instrument des Teufels!
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Pogromstimmung an Kasse vier: Bezahlen mit Bargeld dauert länger. Aber für viele Kunden ist Zeit kein Problem.
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Das abgelaufene Jahrzehnt habe ich nach Angaben von Menschen aus meinem persönlichen Umfeld fast vollständig vor dem Fernseher verbracht. Das ist natürlich falsch. Mindestens zwei Nettomonate gingen dafür drauf, in Autobahnraststätten Quatsch auszusuchen, um meinen Sanifair-Bon einzulösen. Etwa vier weitere Monate habe ich sinnlos in Kassenschlangen verbrannt, weil der deutsche Kunde Bargeld liebt. Mit dem Handy bezahlen? Ohne Geld? Einfach dranhalten? Das ist doch verrückt!
Das ist schon schlimm genug. Noch schlimmer ist, dass überraschend viele Kundinnen die Angewohnheit haben, ihre Münzen und Scheine in zwei unterschiedlichen (!) Portemonnaies unterzubringen. Eines nur für Münzen, eines nur für Scheine. Betroffen sind oft winzige Damen, die schon viele Erfahrungskerben in der Flinte des Lebens haben und sich durch dreierlei auszeichnen: eine praktische, urbane Kurzhaarfrisur, wenig Verständnis für den Pöbel um sie herum und viel Zeit. Meistens befindet sich das eine Portemonnaie dieser burschikosen Vorstadt-Haubitze im tiefen Schlund einer modisch unentschlossenen Allzwecktasche von der Größe eines Yeti-Schlafsacks und das andere in einer von 17 Taschen eines Multifunktions-Overalls in fröhlichen Frühlingsfarben.
Passend zahlen ist der Jackpot des kleinen Mannes
Im Sinne eines gesunden gesellschaftlichen Miteinanders sind Supermarktkunden gehalten, ihre Bezahlinstrumente (Karte, Geld, Goldnuggets) während der Wartezeit in der Schlange in eine günstige Ausgangsposition zu bringen, um den Bezahlvorgang zu beschleunigen. Nicht so Frauen mit zwei Portemonnaies. Erst nach sorgfältigster Verstauung von drei Packungen Ziegenfrischkäse, zwei Stangen Porree, einer Flasche Rhabarbersaftschorle, einer Flasche Himbeerlikör und mehreren Einheiten Häagen-Dazs-Peanut-Butter-Crunch-Eiscreme erreicht die Erkenntnis, dass zum Einkaufen auch das Bezahlen gehört, schleichend das Bewusstsein der Kundin.
Auf dem Boden ihres Mehrzwecksackes tastend zum Scheineportemonnaie vorzustoßen freilich dauert länger, als Heinrich Schliemann mit der Ausgrabung von Troja beschäftigt war. Die Ankunft eines Zehn-Euro-Scheines wird von den wartenden Kunden mit Jubel und Fanfarenstößen gefeiert. Jetzt müsste die Dame nur noch wissen, in welcher ihrer 17 Taschen das Münzportemonnaie steckt.
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Mit dem Handy bezahlen? Ohne Geld? Einfach dranhalten? Das ist doch verrückt!
© Quelle: Franziska Gabbert/dpa-tmn
Der Deutsche liebt seine Scheine und Münzen. Passend zahlen ist der Jackpot des kleinen Mannes – noch schöner, als auf glatte Summen zu tanken. Leider kann es altersunabhängig bis zu elf Minuten dauern, bis ein Kunde die 6,39 Euro für zwei Stangen Porree, eine Knolle Ingwer und eine Schachtel Hipstermüsli herausgekramt hat. Denn im gleichen Moment, in dem er die Kasse erreicht, vergisst er sofort, dass er selbst soeben 22 Minuten in der Schlange auf münzkramende Mitkunden gewartet hat. Alles Leid ist Vergangenheit. Ihn ergreift ein erhabenes Gefühl der Macht über anderer Leute Leben.
Überhaupt haben wir ein Talent dazu, das Bezahlen maximal aufwendig zu gestalten. Folgender – vielfach kolportierter –Dialog gibt davon Zeugnis ab:
– „Payback?“
– „Nein.“
– „Sammeln Sie Treuepunkte?“
– „Nein.“
– „Kundenkarte?“
– „Nein.“
– „Möchten Sie eine?“
– „Nein.“
– „Brauchen Sie einen Bon?“
– „Nein, danke.“
Ich spreche inzwischen mehr mit Kassiererinnen als mit meiner Frau.
Mit Karte? „Da kommen Sie mal mit nach hinten“
Bargeldloses Bezahlen gilt hierzulande als Instrument des Teufels. Bargeld lacht! Manche Verkäuferinnen werden ganz aufgeregt, wenn man eine Karte zückt. „Da kommen Sie mal mit nach hinten“, piepst die Dame. Ich folge ihr dann in den Schlund des Geschäfts zu einem kohlebetriebenen Kartenlesegerät, das aussieht wie ein Diskettenlaufwerk von 1983. Ein Wunder, dass man das Ding nicht mit der Handkurbel startet. Sie tippt nervös ein paar Zahlen ein. Das historische Display flackert. „Heute geht’s!“, freut sie sich. Ich freue mich mit. Keine sechs Minuten später darf ich auch schon meine Geheimzahl in das vor Angst zitternde Gerät eintippen. Und rechne jeden Augenblick damit, dass im gesamten Stadtteil die Stromversorgung zusammenbricht.
Immerhin: Ich darf mit Karte bezahlen. Ein Klassiker des deutschen Bezahlwesens ist jener handgeschriebene Zettel an der Kasse, auf dem steht: „EC-Karte ab 10 Euro“. Touristen aus Übersee müssen den Eindruck haben, das hiesige Geschäftswesen habe sich erst vor wenigen Jahren von den Tauschmitteln Muscheln und Perlen verabschiedet. Ich glaube, die unselige Bonpflicht ist das letzte Aufbäumen der deutschen Bürokratie gegen die drohende Abschaffung von Papiergeld im Bezahlwesen.
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Ort der Begegnung: Den Plan eines schnellen Einkaufs müssen Kunden spätestens an der Supermarktkasse über den Haufen werfen.
© Quelle: dpa
Eine Milliarde Euro ist sehr, sehr viel Geld
Manchmal ist Bargeld durchaus sinnvoll. Vielen von uns fällt es zum Beispiel schwer, sich eine Milliarde Euro vorzustellen. Dabei hilft ein einfaches Gedankenexperiment: Stellen Sie sich einfach sehr, sehr viel Geld vor. Einen Riesenhaufen. Dann wissen Sie, was eine Milliarde Euro sind. Das entspricht umgerechnet drei Elektroautos oder sieben Gigabyte Highspeed-Datenvolumen bei der Telekom. Davon könnte eine elfköpfige Großfamilie aus einer RTL-II-Doku eine Woche lang leben!
Geld ist wichtig. Viele von uns sind stolze Steuerzahler, wären allerdings genauso stolz, wenn sie nur die Hälfte zahlen müssten. Ökonomen arbeiten seit Jahren an der Abschaffung des Bargelds. Denn wenn Geld sowieso nur theoretisch existiert, ist sein Nichtvorhandensein erträglicher. Für eine idiotensichere Abwicklung aber habe ich einen anderen Vorschlag: Ich gehe einfach in den Zeitungsladen, nehme eine Zeitschrift aus dem Regal, gehe zur Kasse und sage laut und deutlich „4 Euro 50!“ und gehe hinaus. Wenn Sie’s nicht passend haben, sagen Sie „5 Euro“, und der Verkäufer antwortet „50 Cent“. Das geht natürlich auch fernmündlich. Zur Bedienung ihres Immobilienkredites rufen Sie alle vier Wochen bei der Bank an und sprechen „1200 plus 10.000 Euro Sondertilgung“ auf einen Anrufbeantworter.
Warum dauert bloß alles so lange in diesem Land?
Warum dauert bloß alles so lange in diesem Land? Vielerorts ist der alte Traum der Menschheit, nicht ein Drittel des Lebens an Supermarktkassen verbringen zu müssen, bereits Wirklichkeit. Der deutsche Kunde hingegen sollte sich besser eine Stulle mitnehmen. Und eine Zahnbürste. Denn das kann dauern. Gern stellt sich beim mehrminütigen Abzählen von Cent-Stücken in Zeitlupe heraus, dass exakt ein Cent fehlt. Man entscheidet sich also kurzfristig für Scheinzahlung. Aber – wir erinnern uns: Die Scheine befinden sich in einem anderen Portemonnaie als die Münzen. Und was viele nicht wissen: Scheine müssen vor der Verwendung sorgfältig entknittert werden, sonst sind sie ungültig.
Doch dann: das Ende des Bezahlvorgangs! Man ist quitt! Halleluja! Doppel-LOL! Aber die Hoffnung auf Erlösung schwindet schnell. Denn nun müssen die Einkäufe verstaut werden. Und zwar nach Zielort sortiert: Frischware für die Küche in den modrigen Allzwecksack, Kellerware in den winzigen Häschenrucksack für Junggebliebene, der Rest bleibt einfach auf dem Band liegen, bis einer eine Idee hat. Dabei ist zu beachten: Schweres nach unten, Mittleres in die Mitte und Leichtes nach oben.
Pogromstimmung an Kasse vier
In der Warteschlange macht sich Pogromstimmung breit. Kasse vier wird emotional gesehen zum südamerikanischen Krisenstaat. Im Geiste plane ich einen Putsch. Nach dreimal umpacken stellt sich heraus, dass die Aufnahmekapazität der Transportbehältnisse mit der Menge der Erwerbnisse nicht korreliert. Mit anderen Worten: Das Band ist noch halb voll, aber der Beutel sieht bereits aus wie Kim Kardashian von hinten. Der Erwerb einer Tragetasche freilich kommt aus Weltrettungserwägungen nicht infrage. Also entschließt sich die Dame nach sorgfältigem Abwägen, mehrere Produkte gegen Erstattung des Einkaufspreises im Laden zu lassen. Die Kassiererin guckt, als müsse sie gerade an Nietzsche denken: „Kultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos.“
Ich gebe auf. Das war’s. Rückzug. Ich komme morgen wieder.