Das Drama von Sevilla: Warum dieses Fußballspiel uns noch heute packt

Das vielleicht schönste Tor: Klaus Fisch erzielt das 3:3 in Sevilla.

Das vielleicht schönste Tor: Klaus Fischer erzielt das 3:3 in Sevilla.

Sevilla. Man sagt das ja immer so: Dieses Fußballspiel war ein Drama! Eine Tragödie, diese Niederlage. Episch, dieser Sieg. Dieser Spielzug, ein Gedicht.

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Warum auch nicht? Begriffe aus der Welt der Literatur passen oft gut in die Welt des Fußballs. Fallrückzieher, Flugkopfbälle, Fußballgenies und Fouls werden mit denselben ästhetischen Kategorien wie schön, hässlich, nachahmenswert und erhaben beschrieben wie Reime, Formulierungen, literarische Figuren und ganz allgemein Kunstwerke. Metaphern können auch hier Brücken schlagen.

Und es darf nicht vergessen werden: Der berühmte Satz über Günter Netzer, der „aus der Tiefe des Raumes“ kommt, stammt von einem Literaturkritiker, dem Ästhetikexperten Karl Heinz Bohrer. Zudem haben Autoren wie Jean-Philippe Toussaint („Zidanes Melancholie“, über den Kopfstoß von Zinédine Zidane bei der WM 2006), Ror Wolf mit seinen literarischen Fußballmontagen, Günter Grass’ Erzählungen aus „Mein Jahrhundert“, Albert Ostermaiers Gedichte sowie Moritz Rinke, Frank Goosen und Karl Ove Knausgård eindrücklich gezeigt, wie der Fußball in die literarische Verlängerung gehen kann. Fersen in Versen quasi, Ball und Ballade, Kicken als Elfmetrik.

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Der Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, Manuel Neukirchner, hat nun seine eigene Brücke zwischen Fußball und Literatur gebaut. Er hat eines der fulminantesten Fußballspiele der Geschichte als Fünfakter konzipiert. Das Drama als Drama. Die Dramatis personae, die handelnden Figuren, sind allerdings alle keine fiktiven Fußballer, sondern die realen Ballrasenartisten (Frankreich) und Ballrasenkämpfer (Bundesrepublik Deutschland) der WM 1982. Die Zitate, die Neukirchner nutzt, sind alle aus Interviews, Memoiren und eigenen Gesprächen mit den Akteuren zusammengesammelt und zu diesem fußballhistorischen Kabinettstück montiert.

Also Vorhang auf! Der Ort: Sevilla. Der Zeitpunkt: 8. Juli 1982. Die Handlung: das Halbfinale zwischen der Bundesrepublik und Frankreich bei der Fußball­weltmeisterschaft. Der antike Philosoph Aristoteles hätte mit Sevilla 1982 dank seiner Dramentheorie mit der Einheit von Ort, Zeit und Handlung viel Freude gehabt.

Fußballspiele bleiben ja oft entweder in Erinnerung, weil das Spiel an sich eine unvergessliche Geschichte schreibt – zuletzt war das Halbfinale von Real Madrid gegen Manchester City in der Champions League ein solches Beispiel –, oder aber, weil es über den Sport hinaus wirkt. Weil es über die 90 (oder mehr) Minuten Länder, Bevölkerungen, Regierungen beschäftigt. Das Halbfinale von 1982 hatte beides zu bieten.

Zunächst zum zweiten Punkt: In der 57. Minute läuft der Franzose Pa­trick Battiston nach einem Steilpass aufs deutsche Tor zu. Ihm sprintet der Torhüter der Deutschen, Harald „Toni“ Schumacher, entgegen. Der Kaugummi kauende Schnurrbart­träger rammt, einen Moment zu spät kommend, den Franzosen mit einem Sprung gegen den Kopf in die Bewusstlosigkeit. Battiston erleidet eine Gehirnerschütterung und Wirbelverletzungen und verliert zwei Zähne.

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Was Schumacher in diesem Drama zum zwischenzeitlich meistgehassten Deutschen in Frankreich macht: Nach dem Foul steht er teilnahmslos am Pfosten und jongliert mit dem Ball, während Battistons Mitspieler sich um den schwer verletzten Lothringer kümmern. Nach dem Spiel äußert sich Schumacher mit den bis heute berühmten Worten „Wenn es nur die Jacketkronen sind, die bezahle ich ihm gerne“.

Der Kölner hat sich im Nachhinein vielfach dafür entschuldigt, hat dargestellt, warum er so teilnahmslos gehandelt hat, wie er das mit den Jacketkronen meinte. Doch über der strahlenden Fußballnacht von Sevilla wird trotzdem immer der Schatten seines brutalen Fouls hängen – das im Übrigen vollkommen ungeahndet blieb, kein Elfmeter, kein Foulspiel, nicht mal Gelb – und Millionen Franzosen auf den Barrikaden.

Zum ersten Punkt: Der Spielverlauf war – um noch einmal einen literarischen Vergleich zu bemühen – ein wahrer Pageturner, ein Krimi, den man nicht zuklappen kann. Kein dahinschnurrender Maigret oder Montalbano, sondern eher so ein Actionthriller à la Tom Clancy oder Dan Brown. Das Duell der Schönheit des französischen Spiels und der Athletik des deutschen endet nach 90 Minuten remis. Dann gehen die Franzosen in der Verlängerung 3:1 in Führung. Der verletzte Karl-Heinz Rummenigge wird eingewechselt und trifft mit dem zweiten Ballkontakt zum Anschluss. Und dann gleicht der fliegende Klaus Fischer per Fallrückzieher zum 3:3 aus – eines der schönsten Tore der deutschen Fußballgeschichte.

Das Elfmeterschießen bündelt die pulsierende Spannung dieses Spiels noch einmal. Der Gladbacher Uli Stielike, später Star bei Real Madrid, verschießt und droht zum tragischen Helden der Geschichte zu werden. Unvergessen das Häufchen Elend, das dort in den Rasen von Sevilla versinken wollte. Doch ausgerechnet Toni Schumacher, der gar nicht mehr auf dem Spielfeld hätte stehen dürfen, hält zwei Elfmeter der Franzosen.

Untröstlich: Uli Stielike nach seinem verschossenen Elfmeter.

Untröstlich: Uli Stielike nach seinem verschossenen Elfmeter.

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Die französische Öffentlichkeit und speziell die französische Sportpresse nehmen schnell die damals noch üblichen Kriegsvergleiche zur Hand. Der Autor Pierre-Louis Basse schreibt nach dem Spiel: „Es ist, als seien unsere Kriege in die Verlängerung gegangen. Nach 1870, 1914, 1940 nun also 1982. Ich habe kein Spiel gesehen, ich sah ein Schlachtfeld, auf dem die Blauen gestorben sind. Der Tod hat sie zu Helden gemacht.“ Darunter ging es damals nicht.

All diese Szenen lässt Neukirchner durch seinen besonderen Zugang noch einmal lebendig werden. Michel Platini sagt nach dem Spiel: „Heute habe ich die größten Momente in meinem Leben als Sportler durchlebt, obwohl wir verloren haben.“ Und: „Leider haben wir verloren. Aber ich glaube, das ist nicht das Wichtigste angesichts dessen, was wir erleben durften. Es war nur ein Fußballspiel. Aber ein einmaliges.“ Und Karl-Heinz Rummenigge bittet, den Fußball nicht zu überhöhen: „Fußball als Krieg? Das ist absoluter Unsinn! Wir dürfen Fußball nicht so aufladen. Es ist und bleibt ein Spiel – das Spiel, das wir als Kinder auf dem Bolzplatz gespielt haben.“

Entfernung vom Bolzplatz der Jugend

Wie gern man ihm da zustimmen würde. Natürlich: Fußball als Krieg bezeichnen heute glücklicherweise nicht mehr viele. Aber wir wissen auch: Die Geschichte der oft schwer nachvollziehbaren Überhöhung des Fußballs und der immer weiteren Entfernung des Weltfußballs vom Bolzplatz der Jugend wird weitergehen. In diesem Jahr, 40 Jahre nach dem Thriller von Sevilla, treffen sich die National­mannschaften zur WM in Katar. Man muss befürchten, dass man - um noch einmal den Bogen zu Literatur und Dramen zu spannen - eher in Form einer Tragödie darüber schreiben wird.

Manuel Neukirchner: „Die Nacht von Sevilla. Fußballdrama in fünf Akten.“ Delius-Klasing-Verlag, 152 Seiten, 29,90 Euro.

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