Stallone in der Zitronenpresse: ein Ausblick aufs Kinojahr 2023
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Pinkfarbener Traum fürs Kinderzimmer: Margot Robbie als „Barbie“.
© Quelle: Warner Bros.
Wie müsste wohl ein Kinojahr aussehen, das Neugier bei jenen weckt, die noch nicht auf der Streaming-Couch festgewachsen sind? Wäre es nicht am besten, wenn es Überraschungen böte, frei nach dem so naiven wie auch weisen Kinohelden Forrest Gump alias Tom Hanks: „Das Kinoleben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt“?
So ein Film ist zweifellos das Drama „The Whale“ (Kinostart: Ende April) von US-Regisseur Darren Aronofsky. Das ist der Regisseur, der einst Natalie Portman im düsteren Psychothriller „Black Swan“ zum Tanzen brachte. Nun hat er den einstigen Actionstar Brendan Fraser („Die Mumie“) reaktiviert: Aronofsky hat den mittlerweile 54-jährigen Fraser mittels Fatsuit – trefflich übersetzt mit „Fettanzug“ – in einen 270 Kilo schweren Todkranken verwandelt, der in einem abgedunkelten Apartment auf die Vergebung der Teenagertochter hofft.
Warum man sich das anschauen sollte? Weil der Film verblüfft und jede Menge Diskussionsstoff bietet.
Leider gelten solche Unwägbarkeiten als risikoreich und sind genau das, was Produzenten – nicht nur in Hollywood – meiden wie die Bleifüße um Vin Diesel in „Fast and Furious“ ein Tempolimit. Diese Actionreihe ist bei der zehnten Auflage angekommen und soll im Mai in den deutschen Kinos zünden. Der elfte (und angeblich letzte) Teil der klimaschädlichen Raserei ist schon abgedreht, woraus sich vor allem eines ablesen lässt: die Mutlosigkeit der Kinobranche im Angesicht von Netflix und Co. Sie tischt das Immergleiche in anderen Variationen auf.
Dass die US-Kinoindustrie sich besonders mit der Superheldenfixierung bei einer erstarkenden Konkurrenz ihr eigenes Grab schaufeln könnte, beklagen Fachkräfte wie Steven Spielberg seit Jahren. Solange aber mit Spektakelreihen wie „Avengers“ Rekorderlöse eingefahren werden, setzt Hollywood unverdrossen auf Wiederholung. Aber auch die Flops im Superheldenfach mehren sich, siehe in diesem Jahr die Marvel-Vampirsause „Morbius“ mit Jared Leto.
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Kein Wunder, dass sich immer mehr kreative Regiekräfte bei den Streamern ausprobieren, egal, ob Alejandro González Iñárritu, Spike Lee, Martin Scorsese oder sogar Spielberg. Kinofilmreihen dagegen werden wie eine Zitrone ausgequetscht. Ob da nicht auch das Stammpublikum irgendwann gelangweilt die Augen schließt?
Ein paar Beispiele: „Aquaman“ (Dezember) stürzt sich in Gestalt von Jason Momoa zum zweiten Mal ins Nass, der „Equalizer“ (August) lässt Denzel Washington zum dritten Mal aus der CIA-Rente zurückholen, und die „Guardians of the Galaxy“ (Mai) beschützen ebenfalls zum dritten Mal das Universum. Auch die „Expandables“-Söldner um Sylvester Stallone vergessen Ende September zum vierten Mal ihre schmerzenden Knochen und ziehen schwer bewaffnet ins Gefecht. Viel Schrott dürfte auch bei der siebten „Transformers“-Karambolage (Juni) anfallen.
Dazwischen lassen sich nach der Papierform auch hochkarätige Fortsetzungen entdecken: Tom Cruise will eine weitere „Mission: Impossible“ (Juli) erfüllen und hat seinen siebten Auftritt als Agent Ethan Hunt in „Dead Reckoning“ in gleich zwei Filme aufgesplittet (der zweite Teil folgt 2024). Da wird es dann richtig kompliziert mit dem Zählen.
Harrison Ford kann es nicht lassen und zieht mit Hut und Peitsche in sein fünftes Abenteuer als Archäologe „Indiana Jones“ (Juni). Timothée Chalamet unternimmt in „Dune“ (Oktober) seinen zweiten Ausflug auf den Wüstenplaneten.
Die Seriennummern dringen in Bereiche vor, wie es sonst nur bei VW-Golf-Modellen in einem knappen halben Jahrhundert der Fall ist. Die Corona-Pandemie hat das Drängeln um Startplätze noch einmal verschärft: Viele Starts wurden verschoben in der Hoffnung auf bessere Zeiten, auf die das ums Überleben ringende Kino immer noch wartet.
Für Deutschland hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth kürzlich eine bestürzende Zahl genannt: Demnächst lägen die Ticketverkäufe bei 40 Prozent im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie (zum Vergleich: Bei Theatern sind es rund 65 Prozent). Roth setzt auf den für 2023 geplanten Kulturpass für 18-Jährige, die 200 Euro für Bücher, Tickets für Konzerte oder eben auch fürs Kino bekommen sollen.
Potenziell lohnende Kinobesuche ließen sich trotz der geballten Einfallslosigkeit vormerken: Wie erwecken wohl Margot Robbie und Ryan Gosling „Barbie“ (Juli) unter der Regie von Greta Gerwig zum Kinoleben? Wie sieht Christopher Nolan die Rolle des Physikers Robert Oppenheimer bei der Entwicklung der Atombombe in „Oppenheimer“ (Juli)? Und welche Absonderlichkeiten lässt sich der Texaner Wes Anderson in seiner stargespickten Wüstenstadt „Asteroid City“ einfallen? Mit dabei: Tom Hanks, Tilda Swinton, Margot Robbie, Adrien Brody, Scarlett Johansson.
Ähnlich prominent fällt die Besetzung von „Babylon – Im Rausch der Ekstase“ aus, zu sehen bereits vom 19. Januar an. Bei diesem Epos über Hollywood am Übergang vom Stumm- zum Tonfilm sind schon wieder Robbie und dazu noch Brad Pitt und Tobey Maguire gemeldet.
Es lässt sich also Honig saugen aus bereits angekündigten Attraktionen. Das gilt erst recht für deutsche Filme: Lars Kraume erzählt in „Der vermessene Mensch“ (März) von den deutschen Kolonialverbrechen im einstigen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Die gerade mit dem Europäischen Filmpreis fürs Lebenswerk geehrte Margarethe von Trotta widmet sich der Dichterin Ingeborg Bachmann (Oktober). Und Andreas Dresen beschäftigt sich in „In Liebe, Eure Hilde“ mit der NS-Widerstandsgruppe Rote Kapelle.
Den ein oder anderen deutschen Titel dürften wir auch bei der 73. Berlinale (16. bis 26. Februar) entdecken. Der Andrang wird dort wieder beneidenswert groß sein. Zudem hat die neue Festivalleitung offenbar erkannt, dass das Festivalgesamtpaket neben Kinokunst mehr Strahlkraft braucht: Kein Geringerer als Steven Spielberg erhält den Ehrenbären (und bringt den autobiografisch inspirierten Kinofilm „Die Fabelmans“ mit). US-Schauspielerin Kristen Stewart, längst den „Twilight“-Vampirromanzen entwachsen, steht der Jury vor. „Jung, aufstrebend und mit einem beeindruckenden Werk im Rücken ist Kristen Stewart die perfekte Verbindung zwischen den USA und Europa“, hat das Berlinale-Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian schon mal angekündigt.
Damit wäre eine Hollywoodmindestpräsenz in der Hauptstadt gesichert, auch wenn zeitgleich drüben in Los Angeles die Preissaison tobt. Bei den Golden Globes am 10. Januar stellt sich die Frage, ob die Erneuerung des Auslandspresse-Verbandes nach schlimmen Rassismus- und Bestechungsskandalen wirklich so schnell gelingen kann: Kommen die Stars zurück zur einstigen Champagnerfete, obwohl zum Beispiel Tom Cruise seine Trophäen demonstrativ zurückgegeben hat?
Die Oscars werden am 12. März verliehen. Dann könnte auch eine Deutsche eine Rolle spielen: Maria Schrader mit ihrem #MeToo-Film „She Said“ über die Aufdeckung der sexuellen Verbrechen Harvey Weinsteins. In der Kategorie Auslands-Oscar ist die deutsche Remarque-Verfilmung „Im Westen nichts Neues“ mit Albrecht Schuch und Daniel Brühl nominiert.
Einen Film hätten wir fast vergessen: Til Schweiger kehrt Ende März mit „Manta Manta – Zwoter Teil“ zurück, eindeutig eine Fortsetzung. Allerdings lief der Originalfilm vor mehr als 30 Jahren im Kino. Und deshalb sind wir doch neugierig auf dieses Oldtimertreffen.