Das Leben der anderen
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Im Jahr 1900 gründeten sechs junge Aussteiger aus allen Teilen Europas den Monte Verità, den Berg der Wahrheit, eine Keimzelle alternativen Lebens.
© Quelle: Monte Verita
München. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie die Computerfirma Apple zu ihrem freundlichen Namen kommt? Die Antwort führt uns weit in die Vergangenheit zurück, in eine Zeit, in der Computer und Smartphones bestenfalls in den Träumen einiger Utopisten existierten, in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, eigentlich sogar an den Anfang des 20. Jahrhunderts.
Im Jahr 1914 wanderten viele junge Männer aus Deutschland in die USA aus, um nicht zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Angesichts der Millionen von Toten, die der Erste Weltkrieg forderte, war es wohl eine vernünftige Entscheidung. Unter den Auswanderern war auch ein Mittvierziger: der aus der Nähe von Freiburg stammende Arnold Ehret.
Ehret hatte sich in Deutschland einen Namen als Fastenkünstler gemacht. Am Abend des 26. Juni 1909 ließ er sich in einem Panoptikum in Köln in eine notariell versiegelte, drei Meter hohe Glaszelle einschließen. Bis auf einen Spalt, der eben genügte, eine Postkarte durchzustecken, und einem Einsatz aus Fliegengaze am oberen Ende, die die Zufuhr frischer Luft ermöglichte, war die Zelle von der Außenwelt isoliert. Die einzige Nahrung, die ihm zur Verfügung stand, waren 125 Liter Mineralwasser, mit denen er sich allerdings auch waschen musste. Ehret hatte angekündigt, 51 Tage fasten zu wollen, das wären vier Tage mehr gewesen als der damalige Weltrekord. Nach 49 Tagen musste das Experiment schließlich abgebrochen werden. Aber für den Weltrekord reichte es.
Obst, Luft und Wasser
Seine über Nacht erblühte Prominenz versuchte Ehret in klingende Münze zu verwandeln. Dafür ging er in die Schweiz, ins Tessin, nach Ascona. Dort hatten im Jahr 1900 sechs junge Aussteiger, Frauen und Männer aus allen Teilen Europas, den Monte Verità gegründet, den Berg der Wahrheit, eine Keimzelle alternativen Lebens, frei von den gewöhnlichen Zwängen der Bürgerlichkeit. Herzstück des Monte Verità war ein Sanatorium gleichen Namens, eine Naturheilanstalt, deren Gäste sich strikt vegetarisch ernährten, in sogenannten Lichtlufthütten schliefen und auch ansonsten ein naturnahes, körperbetontes Leben führten.
Ehret richtete auf dem Monte Verità eine “Schule für leibliche und geistige Diätetik und Volksaufklärung“ ein. Für Ehret hatte jeder kranke Mensch, gleichgültig ob er unter Magenverstimmung, Erkältung, Krebs oder Syphilis litt, einen “schleimverstopften Organismus“. Dieser Schleim, so behauptete er, stamme von unverdauten, nicht ausgeschiedenen Nahrungsbestandteilen, die sich von Kindheit an gesammelt hätten.
Krankheit sei nichts anderes als der Versuch des Körpers, Abfall, Schleim und Gifte auszuscheiden. Laut Ehret muss das ganze Zeug raus, also ist erst einmal Fasten angesagt. Und danach muss anderes Zeug rein, nämlich Nahrung, die der Körper möglichst rückstandslos verdauen kann: Obst, stärkefreies Gemüse oder Salate. Dazu Luft und Wasser, Letzteres auch während der Fastenkuren. Fertig.
Einer seiner Leser war Steve Jobs
Fünf Jahre später in den USA angekommen, behauptete Ehret, diese Lehre bereits auf dem Monte Verità Tausenden nahegebracht und sie auf diesem Wege geheilt zu haben. Und da es besser klang, verlegte er das Geschehen von Ascona nach Nizza; von der Côte d’Azur hatten selbst die Amerikaner schon gehört. In den USA hatte Ehret mit seiner Diätphilosophie großen Erfolg. In seine Vorträge strömten viele Tausende Zuhörer, seine Bücher wurden erst zu Best- und dann zu Longsellern. Sie liegen in den USA bis heute in mehreren Ausgaben vor.
Unter den Lesern Ehrets war Anfang der 1970er-Jahre auch der Collegestudent Steve Jobs, der schon bald die Firma Apple gründen sollte. Er war bereits in jungen Jahren Vegetarier geworden und hatte die Angewohnheit, barfuß herumzulaufen. Ohne vom Monte Verità je gehört zu haben, hätte er sich auch seiner äußeren Erscheinung nach problemlos unter die dortigen “Naturmenschen“ einreihen können, wie sie seinerzeit genannt wurden. Jetzt hießen sie Hippies. “Die Menschen, die das 21. Jahrhundert erfanden, waren Marihuana rauchende Hippies in Sandalen wie Steve, die von der Westküste kamen und einen anderen Blickwinkel hatten“, bilanzierte der Musiker Bono einmal.
Vorbild für moderne Ernährungskonzepte
Inspiriert von der Lektüre Ehrets verschärfte Jobs den Nahrungsverzicht, aß tagelang ausschließlich Äpfel oder fastete. “Nach einer Woche fühlt man sich fantastisch“, meinte er. “Da man das ganze Essen nicht verdauen muss, ist man viel vitaler.“ Die Wochenenden verbrachte er auf der All One Farm, einer Kommune. Jobs war dort für das Beschneiden der Bäume verantwortlich, aus deren Früchten biologischer Apfelsaft hergestellt wurde. So kam die Firma Apple zu ihrem Namen, geboren aus dem Geist biodynamischer Landwirtschaft und Ehrets schleimfreier Fastenkost. “Ich praktizierte mal wieder eine meiner Obstdiäten“, erzählte Jobs seinem Biografen Walter Isaacson. “Ich war gerade von der Apfelplantage zurückgekehrt. Der Name klang freundlich, schwungvoll, nicht einschüchternd.“
Selbst in seinen letzten Lebensjahren zweifelte der inzwischen schwer krebskranke Steve Jobs nicht an der Richtigkeit von Ehrets Theorie. Wir mögen sie heute belächeln. Doch Entschlackungs- und Fastenkuren oder Obstdiäten haben nach wie vor Konjunktur. Wir wollen beim Essen nicht einfach nur unseren Hunger stillen, sondern uns gesund ernähren, wir sind überaus sensibel für mögliche Schadstoffe in unserer Nahrung und misstrauisch gegenüber den Produkten der Nahrungsmittelindustrie. Nicht nur unsere Computer und Smartphones, auch unsere Vorstellungen von gutem Essen haben mehr, als wir denken, mit dem Berg der Wahrheit im Tessin zu tun.
Zur Person: Stefan Bollmann arbeitet als Lektor und Autor in München. Er studierte unter anderem Germanistik, Geschichte und Philosophie und promovierte über Thomas Mann.
Von Stefan Bollmann