Der Furchtlehrer ist wieder da – vier neue Novellen von Stephen King
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Jagt wieder Schauer über den Rücken seiner Fans: Stephen King legt seine neue Novellensammlung “Blutige Nachrichten” vor.
© Quelle: imago/ZUMA Press
“If it bleeds / it leads” (in etwa “Klebt hierdran Blut / dann wird es gut”) ist ein zynischer Begriff aus der Zeitungswelt, wonach Gewalt Geld macht, sich die besonders “blutige Nachricht” am besten verkauft. Und so führt uns die titelgebende Geschichte von Stephen Kings vierter Novellensammlung auch in die Welt der Medien, speziell des Fernsehens. Da ist ein Reporter, der Holly Gibney auffällt. Er ist als Erster bei einem Sprengstoffattentat auf die Albert Macready Middle School, was dem Sender WPEN Quote und Reputation verschafft. Durch die Beobachtung eines winzigen Details setzt sich in Holly der Gedanke fest, dass dieser Mann die Schreckensbilder möglicherweise selbst verursacht haben könnte. Und schon hat es Holly wieder mit einem Monster zu tun.
Diesmal ist Kings Darling Holly Gibney auf sich gestellt
Nur dass sie diesmal allein ist, keinen Detective Ralph Anderson an ihrer Seite hat wie in “The Outsider” (2018), wo ein Äonen alter, quasivampirischer Gestaltwandler zur Strecke gebracht werden musste, und auch keinen pensionierten Detective Bill Hodges wie in der 2014 gestarteten “Mr. Mercedes”-Romantrilogie, wo sie gegen einen Mörder antrat, der Wege gefunden hatte, noch aus dem Koma heraus tödlich zu sein. Holly Gibney wird von einem 91-jährigen Ex-Polizisten unterstützt, der im Feld keine Hilfe ist. So ist sie diesmal auf sich gestellt, und wiewohl sie die Existenz des Übernatürlichen inzwischen aus Erfahrung akzeptiert hat, muss sie zugleich gegen sich selbst antreten. Stephen King legt seiner Lieblingsfigur (wie er im Geleitwort der Sammlung ausführt) die Stolpersteine ihrer Ängste und ihrer Vergangenheit in den Weg. Der in Kings Büchern weißen Figur schiebt man inzwischen im Geiste die Optik der schwarzen Schauspielerin Cynthia Erivo unter. Schließlich war die HBO-Serie “The Outsider” die mit Abstand beunruhigendste King-Verfilmung der letzten Dekade. Als Stoff für eine zweite Staffel müsste man “Blutige Nachrichten” inhaltlich noch ein wenig auspolstern.
“Blutige Nachrichten” ist Kings vierter Novellenband, seit 1982 “Frühling, Sommer, Herbst und Tod” erschien, ein Kleeblatt von Kurzromanen oder Long Storys, in denen der Meister des überbordenden Seitenumfangs, diszipliniert und stringent große Geschichten klein halten musste. Auch diese Sammlung des Halblangen ist geglückt. Jede Geschichte – selbst die mit 200 Seiten doch umfangreiche Titelstory – lässt sich (mit etwas Freizeit in petto) in einem Rutsch durchlesen.
Der Band enthält eine der berührendsten Geschichten Kings
Der neunjährige Craig wird in “Mister Harrigans Telefon” der beste Freund eines alten, schwerreichen Mannes, dem er von einem unverhofften Lotteriegewinn ein Smartphone kauft. Craig gibt dem zunächst skeptischen, dann von den Möglichkeiten der Apparatur faszinierten Alten das Handy schließlich heimlich mit ins Grab. Und weil er seinen toten Freund vermisst, kommt er auf eine jener Ideen, die Figuren in King-Geschichten später zutiefst zu bedauern pflegen, weil eine Verbindung zur Twilight Tone hergestellt wird. Es ist ein Geist in der Maschine, oder zumindest scheint ein Geist durch das iPhone zu wirken.
Eine der berührendsten Geschichten Kings ist die von “Chucks Leben” – ein dreiteiliges Porträt, das mit der seltsamen Apokalypse beginnt, die an Arthur C. Clarkes “Die neun Milliarden Namen Gottes” erinnert, und das in seiner auf den Kopf gestellten Chronologie mit Chucks Jugend endet, einem Geisterhausszenario, das alles vorher Gelesene in neuem Lichte erscheinen lässt. Der Mittelteil ist ein magischer, musicalähnlicher Moment, in dem ein kleiner Mann unvermutet den größten Auftritt seines Lebens hat. Nie zuvor hat King ähnlich Schönes geschrieben: Jedesmal wenn ein Mensch stirbt, so seine Botschaft, wird eine ganze Welt ausgelöscht.
In “Ratte” will ein Englischlehrer (Kings Beruf vor seinem Durchbruch mit “Carrie” 1974) nach vergeblichen Anläufen endlich seinen Roman vollenden. Und in der Einsamkeit, wo der Verstand dünner und dünner wird – wie wir spätestens seit Kings berühmtestem Schriftstellerroman “Shining” wissen – verfällt jener Drew Larson schließlich darauf, einen Pakt mit einer mysteriösen Ratte zu schließen.. Ob hier übernatürlich erfüllte Wirklichkeit wirkt oder ein aus einer Schreibblockade geborene Fiebertraum glüht, das gilt es für den Leser – wie damals im Overlook Hotel – zu ergründen.
Novellen für den dunklen Sommer der Pandemie
Ist Kings Werk sonst eher Stoff für lange Winterabende, so fügt sich sein neues Novellenquartett passgenau in diesen dunklen Sommer der Pandemie, dieses Jahr, in dem alle Sicherheiten weggeblasen wurden und die mögliche Endlichkeit unserer Zivilisation so deutlich wurde wie seit dem Jahrzehnten nicht mehr. Bei King ist zu spüren, dass er nicht über den Schrecken steht wie jene Gruselerzähler, die uns von höherer Warte herab bespuken. King versteht die Ängste seiner Helden Drew, Holly, Chuck und Craig nicht nur - wenn der Furchtlehrer auszieht, uns das Fürchten zu lehren, spürt man allzeit, dass ihm selbst noch immer bange ist vor den Wesen in den Schatten. Vielleicht schließt er deshalb so oft mit dem Trost eines Happy Ends.
Blut übrigens gibt es nicht im Überfluss in “Blutige Nachrichten”, bei King lautet die Regel anders: “If it creeps / it leads”.
Stephen King – “Blutige Nachrichten”, Heyne, 560 Seiten, 24 Euro, erscheint am 10. August