Die schönen Seiten der Werbung
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Gegensätze erzeugen Aufmerksamkeit: Floriane Matheas „Kiwi“-Plakat von 2006.
© Quelle: Folkwang
Hallo! Hallihallo! Hier spielt die Musik! Bleiben Sie doch mal hier! Schauen Sie auf diesen Text! Auf diese Doppelseite! Schöne Bilder gibt es hier zu sehen! Es lohnt sich! Es geht um Plakate. Um Werbung. Um Politik. Und um Kinofilme.
Vielleicht hat dieser Schrei um Aufmerksamkeit ja bei Ihnen gewirkt. Dann haben Sie eben nicht nur den ersten Absatz gelesen, sondern bleiben auch in diesem zweiten dabei und vielleicht sogar noch in den folgenden Zeilen dieses Textes. Man muss ja in Zeiten der überbordenden Sinneseindrücke – Internet, Fernsehen, Radio, in den Großstädten noch dazu hektisches Treiben – so laut und leidenschaftlich und kreativ und manchmal auch so verrückt wie möglich dafür werben, dass die Augen und Ohren der Menschen beim eigenen Produkt – in dem Fall dem eigenen Text – landen.
Schauen Sie auf dieses Plakat!
Falls Sie jetzt noch da sind, erst einmal ein kleiner Blick in die Geschichte der Werbung: Als die schnellen Massenmedien wie Fernsehen und Radio noch nicht erfunden waren oder noch in ihren Kinderschuhen steckten, waren in erster Linie Plakate die Lockvögel und Rattenfänger, die die Konsumenten für kurze Zeit in eine andere Welt entführten. Eine rauchen? Manoli- oder Doyen-Zigaretten. Durst? Bitter Campari. Lust auf Reisen? Im Nord-Express. Oder in den Belgischen Eisenbahnen („Chemins de fer Belges“), die London mit Brüssel, Frankfurt und Belgrad oder Paris mit dem damals noch herrlichen Seebad Ostende verbanden. Auch hier das Prinzip: Bleiben Sie stehen! Schauen Sie auf dieses Plakat! Und kaufen Sie sich ein Eisenbahnticket!
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© Quelle: Folkwang
Eine packende und ausführliche Ausstellung im Folkwang-Museum in Essen zeigt nun mit Plakaten aus mehr als 100 Jahren, wie dieses Medium aus gestärktem Papier (ideal sind 130 bis 200 Gramm pro Quadratmeter) die Welt der Werbung, der Politik und der Kultur beeinflusste. Geboten wird ein Rundgang durch die Epochen der deutschen Geschichte und verbunden damit der deutschen Plakatgeschichte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Und alle gezeigten Werbeträger schreien dem Betrachter dasselbe entgegen wie der Beginn dieses Textes: „We want you!“ Wir wollen dich! Wir wollen euch! Schenkt uns eure Aufmerksamkeit, schaut her, lasst euch entführen!
„We want you“, so lautet passenderweise auch der Titel der Ausstellung, der sich auf das berühmte Plakat der damals nicht durch Wehrpflicht getragenen US-Armee aus dem Ersten Weltkrieg bezieht: Darauf wollte Uncle Sam damals mit Hut, Spitzbart und ausgestrecktem Zeigefinger Soldaten werben. Es war ein doppeltes „We want you!“, Werbung fürs Werben.
Die Geschichte des politischen Plakats ist viel älter als die seiner Reklamegeschwister. Bereits im alten Rom wurden Mitteilungen oder neue Gesetze an der Wand „angeschlagen“. Und dieses „Anschlagen“ steckt in der Bedeutung des Worts „Plakat“. Allerdings kam es erst eineinhalb Jahrtausende nach Caesar, Cicero und Catilina über die Lippen der Europäer. Auch damals, im 17. Jahrhundert, ging es um Politik, genauer gesagt um den Unabhängigkeitskampf der Vereinigten Niederlande. In diesem Befreiungskrieg gegen die spanischen Habsburger klebten die Widerstandskämpfer Flugblätter an Hauswände und Mauern – oder wie man damals sagte: Sie plackten die Schriften an die Wände.
Hat schon Luther plakatiert?
Der sprachliche Weg vom Placken zum Plakat war dann kurz, die Papierbögen nannte man plakatten (neu-niederländisch plakkaat). Im Französischen wurde daraus placarder („anschlagen“). In Deutschland ist der Begriff erstmals 1578 nachgewiesen, als der Satiriker Johann Fischart das Wort Plakat gebrauchte, um eine öffentliche Bekanntmachung der Obrigkeit zu bezeichnen.
Man muss nicht so weit gehen, Luthers 95 Thesen, die er 1517 an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg angeschlagen hat, als erstes Plakat der deutschen Geschichte zu interpretieren. Aber spätestens mit dem langsam erwachenden Selbstbewusstsein des Bürgertums und dann der Arbeiterinnen und Arbeiter ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Plakat zu einem kontinuierlich genutzten und wirksamen Mittel der Massenkommunikation.
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Klassiker: die berühmte Afri-Cola-Werbung von 1968.
© Quelle: Folkwang
Allerdings fiel zu der Zeit wie so vieles auch das Werben für politische Inhalte und für Ideologien den damals wachsamen und effektiven Zensoren zum Opfer. Freie Meinungsäußerung war bei den herrschenden Monarchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts so beliebt wie ein Splitter im Auge. Und so war das Plakatieren eher eine subversive Tätigkeit.
Anders verhielt es sich mit Bekanntmachungen und Hinweisen auf Produkte, Reisen, Zeitschriften und Veranstaltungen. Eines der ersten hervorstechenden Werke der entstehenden Plakatkunst am Ende des 19. Jahrhunderts ist das Bildplakat von Ludwig Sütterlin zur Gewerbeausstellung 1896 in Berlin.
Kaugummiblasenartige Comichaftigkeit wie in den Siebzigern
Sütterlin, der 15 Jahre später im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums die nach ihm benannte Schreibschrift entwickelte, ließ eine Faust mit Hammer aus der Erde wachsen. Gestalterisch war das damals eine Sensation. Und Staunen ist die beste Voraussetzung, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ebenfalls aus dem Jahr 1896 stammt ein Plakat, das die Münchner Illustrierte Wochenschrift „Jugend“ bewarb. Josef Rudolf Witzel entwarf dafür Buchstaben, die in ihrer kaugummiblasenartigen Comichaftigkeit auch ein Plattencover der späten Beatles in den Siebzigern hätten schmücken können.
Nach der Wende zum 20. Jahrhundert entdeckten immer mehr Künstlerinnen und Künstler Plakate als wunderbare Möglichkeit, sich kreativ auszuleben. Zunächst prägte der Jugendstil die neue Werbung. Später fanden sich auch Vertreter und Protagonistinnen anderer großer Kunstepochen auf den papierenen Werbeträgern wieder: Postimpressionisten wie Henri Toulouse-Lautrec verewigten sich auf Werbe- und Veranstaltungsplakaten genauso wie der Bauhauskünstler Herbert Bayer oder der Fotomontagekünstler John Heartfield.
So gibt es viele unterschiedliche Darstellungsarten, die allerdings alle auf einen Kern zurückfallen: Plakate müssen mit Bild oder Text oder Bild und Text den Inhalt, den sie transportieren sollen, schnell und einprägsam vermitteln. Sie dürfen nicht zu vollgestellt mit Informationen und nicht zu kompliziert sein, dürfen den Inhalt aber auch nicht zu oberflächlich darstellen. Dann droht das schnelle Vergessen. Denn Plakate, das darf man nicht vergessen, gehen anders als Flugblätter und Flyer nicht mit den Adressaten mit. Sie müssen vom Vorbeigehenden, von der Vorbeifahrenden schnell erfasst werden und dann im Gedächtnis bleiben. Es ist eine Gratwanderung – und eine Kunst, wenn es gelingt.
Plakate sind immer noch präsent
Jede Epoche der jüngeren Geschichte spiegelt sich in den in Essen gezeigten Plakaten wider. Kriegspropaganda zur Zeit des Ersten Weltkriegs. In der Weimarer Republik tragen Filmplakate dem neuen Medium Kino Rechnung. Der Nationalsozialismus wirbt für die neue Ideologie und seine Institutionen (wobei das Radio spätestens mit dem reichweitenstarken Volksempfänger in der Propaganda Hitlers und Goebbels’ eine viel wichtigere Rolle spielte als das Plakat). In der Nachkriegszeit gehen die beiden Deutschlands auch in Werbung und Plakatkunst getrennte Wege. Da in der DDR die Etablierung des Fernsehens länger dauert als in der Bundesrepublik, nimmt die Bedeutung der Plakate dort auch erst später ab.
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Als Jimi Hendrix mit seiner Band The Jimi Hendrix Experience 1969 auf Tour ging, machte Günther Kieser mit seinem Plakat auf die Konzerte aufmerksam.
© Quelle: Folkwang
Und was ist mit der Gegenwart? Auch wenn mit dem Internet und der dort ständig aufploppenden, individuell zugeschnittenen Werbung sowie dem Fernsehen und dem Radio so große Konkurrenz wie nie dem Plakat gegenübersteht, ist es noch lange nicht aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Das merkt man nicht nur vor Wahlen, wenn Politiker und Politikerinnen Städte, Dörfer und Landschaften mit ihren Bildern und ihren kurzen Botschaften prägen. Das sieht man auch immer noch an Werbeplakaten in Bahnhöfen, Bussen, Wartehäuschen.
Die Ausstellung in Essen zeigt ebenfalls, dass sich die Orte, an denen plakatiert wird, und die Art der Plakatierung zum Teil enorm gewandelt haben. Zum Teil aber sind Kontinuitäten über mehr als ein Jahrhundert zu beobachten. Hinter einer Litfaßsäule versteckten sich schon 1929 Erich Kästners Emil und seine Detektive. Doch die monumentalen Monitore an öffentlichen Plätzen (und längst nicht mehr nur am New Yorker Times Square), die Wechsler mit mehreren durchratternden Plakaten oder die riesigen Banner, die an Baugerüsten, Tunneleinfahrten oder Kirchtürmen auf Luxusdesigner, Restaurants oder Parfümklassiker aufmerksam machen, waren ihnen noch unbekannt. Sie kamen erst in einer Zeit, in der der Dauerkonsum zur unumstößlichen Säule unserer Gesellschaft wurde.
„We want you! Von den Anfängen des Plakats bis heute“ ist bis 28. August im Essener Folkwang-Museum zu sehen. Geöffnet ist dienstags bis sonntags, montags ist Ruhetag. Der Katalog mit mehr als 500 Abbildungen ist im Steidl-Verlag erschienen und kostet 38 Euro.
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