Endlich wieder E-Street-Band – Bruce Springsteens „Letter To You“
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Brief an uns alle: Bruce Springsteen (mit Ehefrau Patti Scialfa) in der Doku zum neuen Album "Letter to You".
© Quelle: Apple TV+/dpa
„In der einen Minute bist du noch da, in der nächsten nicht mehr“ – mit diesem Gedanken eröffnet Bruce Springsteen sein neues Album „Letter To You“. Ein Lied darüber, wie kurz und unberechenbar das Leben ist. Gerade hat man noch seinen Penny auf die Gleise gelegt und gespürt, wie der letzte Sommerwind den Herbst ankündigt, ist gemeinsam mit dem oder der Liebsten zum Thanksgiving-Jahrmarkt gezogen, da macht der Sternenhimmel einer Schwärze Platz und alles endet. Ein Song zur Jahreszeit, jetzt kommen schließlich die Feiertage der Toten und Geister heran, die Monate der blattlosen Bäume und der hustenden Krähen.
Weckruf durch die Totenglocke
Weckruf durch die Totenglocke. Der Tod seines alten Bandkollegen, George Theiss, 2018, der Springsteen zum letzten lebenden Mitglied seiner frühen Band, der Castiles, werden ließ, war einer der Beweggründe für den Songwriter, nach sechs Jahren wieder E-Street-Rock’n’Roll-Songs zu schreiben.
Und sie entstanden alle auf einer „schönen Akustikgitarre“, die ihm ein italienischer Fan bei einer seiner Broadway-Bühnenshows schenkte. Zehn Schöpfertage, an denen Springsteen ruhelos durch sein Haus streifte und jeden Tag ein Lied schrieb, „eins im Schlafzimmer, eins in unserer Bar, eins im Wohnzimmer …“.
Das erste war das autobiografische „Last Man Standing“ über die Zeiten mit den Castiles, aber auch andere Tracks wie „Ghosts“ und „I’ll See You In My Dreams“ erzählen von Tod und Vergänglichkeit, von den Toten und wie sie den Lebenden helfen. 2008 und 2011 starben mit Danny Federici und Clarence Clemons zwei E-Streeter. Noch heute kann Springsteen nicht fassen, seinen besten Freund Clemons nicht mehr treffen zu können. „Ich lebe an diesem Punkt meines Lebens Tag für Tag mit den Toten“, verriet er dem Musikmagazin „Rolling Stone“.
Nichts über Corona, wenig über Trump
Der Albumtitel aber – ein „Brief“, adressiert „an dich“ – sei nicht etwa an die Toten in seinem Leben gerichtet, sondern an alle, die sich diese Musik und ihre Texte anhören wollen, die zig Millionen Springsteenianer auf dem Planeten also. Obligatorische Lockdownlieder fehlen, weil Springsteen das Konzept nicht nachträglich öffnen wollte. Und auf Albumlänge gegen Trump zu schießen, wäre ihm zu billig vorgekommen. Auch wenn sich im Lied „House of a Thousand Guitars“ die Zeile „The criminal clown has stolen the thron. He steals what he can never own“ sich definitiv nicht auf den Joker bezieht. Und die Ballade „Rainmaker“ beschreibt dann ganz gut das Lügensystem des Unpräsidenten – ohne dass sein Namen fällt.
Innerhalb von nur fünf Tagen wurden die zwölf Songs in Springsteens Heimstudio in Colts Neck/New Jersey eingespielt. Man traf sich im November 2019 zu den Sessions, eine Band, die damals noch nichts wusste von dem Virus, das nur wenige Monate später die Livemusik auf der ganzen Welt zum Verstummen bringen sollte. Am fünften Tag, als alles im Kasten war, stieß man wie immer auf die Tour an, die folgen sollte, und die wohl auch 2021 nicht kommen wird. Seine Antenne sage ihm, dass die neuen Songs „bestenfalls 2022“ live zu hören sein werden, sagte Springsteen im „Rolling Stone“.
Die Songs sind auf den ersten Horch nicht so spektakulär, gemessen jedenfalls an den extrem melodieseligen, orchestrierten Schönheiten des Vorgängers „Western Stars“, mit denen sich Springsteen im Vorjahr an Countrypop à la Glen Campbell versuchte. Aber sie wachsen von Durchgang zu Durchgang, sind rau und kraftvoll, voller Energie. Zum ersten Mal seit „Born In the USA“ hat die Band wieder wirklich zusammen aufgenommen – alle zur selben Zeit begeistert am selben Stück.
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Und die Songs hören sich an wie aus der Zeit von „The River“ (1980) oder von noch früher, als Springsteen als neuer Bob Dylan verkauft wurde. Das dylaneske „Song For the Orphans“, die wilde Erzählung „Janey Needs a Shooter“ und „If I Was a Priest“ sind denn auch neue Versuche an drei mehr als 40 Jahre alten, fiebrigen Stücken. Alles wie in der guten alten Zeit: Kirmesorgel, Mundharmonika, Glockenspiel, twangende Gretsch-Gitarren, Jake Clemons' souliges Saxofon und das lyrische Piano in „Power Of Prayer“. Mehr E-Street-Sound war seit Ewigkeiten nicht.
Silberne Haare hat er inzwischen, der Boss. Immer noch nimmt er Medizin gegen Depressionen. Er macht sich Sorgen um all die Musiker, die vielleicht nicht über die Corona-Runden kommen. Einfach in einen Eisladen reinzugehen und ohne Maske seine Lieblingssorte zu bestellen, das hat sich der 71-Jährige als Erstes vorgenommen, wenn die Zeit der Pandemie vorbei ist. Und danach die größte Party vom Zaun brechen, die die Welt gesehen hat.
„Ich sehe dich in meinen Träumen“, heißt die letzte Zeile des Albums. Das gilt seinen Toten ebenso wie jedem von uns Lebenden. Träumen wir mit diesem Album ein wenig von Bruce und der E-Street-Band, bis wir uns dann alle hoffentlich wiedersehen in den Rock’n’Roll-Arenen der Welt.
Bruce Springsteen (& The E-Street-Band): „Letter To You“ (Columbia Records), erscheint am 23. August.