Frauenfolter in Zeiten von #MeToo: „Dau. Natasha“ ist der Aufregerfilm der Berlinale
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Regisseur Ilya Khrzhanovskiy sorgt mit “Dau. Natasha” für den Aufreger der Berlinale.
© Quelle: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/
Berlin. Was ist hier gespielt? Was geht über die Fiktion hinaus? Und vor allem: Muss man sich das antun? Eine Frau wird von ihrem Folterer gedemütigt, an den Haaren herumgezogen, gezwungen, sich nackt auszuziehen. Dann muss Natasha sich den Hals einer Cognacflasche in die Vagina stecken. Das ist nicht explizit zu sehen – anders als zuvor der Sex der Kantinenchefin Natasha (Natasha Berezhnaya) mit einem französischen Wissenschaftler.
“Dau. Natasha” hatte am Mittwoch im Berlinale-Wettbewerb Premiere, der erste Film von vielen, die aus dem Megakunstprojekt “Dau” des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky entstanden sind. Diese Schockmomente leistet sich die Berlinale in Zeiten von #MeToo und muss sich harsche Kritik gefallen lassen. Ein zweiter “Dau”-Film wird auch noch gezeigt.
Grenzen zwischen Inszenierung und Wirklichkeit vermischen sich
Drei Jahre lang hat Khrzhanovsky, 1975 geboren, in den Kulissen eines nachgebauten sowjetischen Wissenschaftsinstituts aus der Stalin-Zeit gefilmt – benannt war das Originalinstitut nach dem genialen Physiker Lew Landau, Spitzname: Dau. Menschen von heute spielten in der Ukraine über drei Jahre Menschen aus den Fünfzigern.
Der Regisseur wollte in die Abgründe eines totalitären Regimes schauen. Möglicherweise hat er sich dabei ein bisschen zu weit vorgewagt. Bei einer so langen Drehzeit vermischen sich die Grenzen zwischen Inszenierung und Wirklichkeit.
Eine Parallelwelt hatte Khrzhanovskiy erschaffen. Kleidung, Essen, Möbel: Alles war der Stalin-Zeit nachempfunden. 400 Menschen beteiligten sich an “Dau”, einer Art Laborversuch aus Rollenspiel und Gruppenerfahrung. Der KGB-Folterer von Natasha war in seinem früheren Leben Gefängnisleiter, Natasha eine Verkäuferin.
Macher wollten Berliner Mauer wieder aufbauen
700 Stunden Film entstanden, gefilmt vom deutschen Kameramann Jürgen Jürges. Das Geld stammte von einem Oligarchen namens Sergei Adonjew, auch deutsches Fördergeld steckt in “Dau”.
In einer Art Happening sollte die “Dau”-Welt 2018 in Berlin noch einmal nachgebaut werden, einschließlich Berliner Mauer. Die Behörden verboten es. Die Show zog um nach Paris.
Nun ist “Dau” mit der Kantinenfrau Natasha nach Berlin zurückgekehrt. Lange wirkt ihr Leben harmlos. Trinkgelage, Verbrüderungsszenen mit dem französischen Gastwissenschaftler, seltsame Strahlenversuche in einer Pyramide – erst in der letzten Stunde muss Natasha leiden.
Das Frappierende daran: Sie denunziert nicht nur den angeblich perversen Franzosen, wie es ihr Peiniger verlangt. Sie biedert und bietet sich dem Folterer auch an. Wird hier die Perfidie eines totalitären Systems erkennbar, das einen Menschen gebrochen hat? “Dau. Natasha” ist nur schwer zu ertragen.