Historikertag in München: „Ohne historisches Wissen sind wir in der Jetztzeit gefangen“

„Wenn wir nicht mehr wissen, wie Dynamiken in Gesellschaften entstanden sind und wie sie verlaufen, kann es passieren, dass wir in bestimmten Situationen bei bestimmten Ereignissen überreagieren oder dass wir daraus falsche Schlüsse ziehen“: Prof. Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschland.

„Wenn wir nicht mehr wissen, wie Dynamiken in Gesellschaften entstanden sind und wie sie verlaufen, kann es passieren, dass wir in bestimmten Situationen bei bestimmten Ereignissen überreagieren oder dass wir daraus falsche Schlüsse ziehen“: Prof. Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschland.

Am Bundestagswahlabend vor wenigen Tagen war unter anderem von Armin Laschet und Robert Habeck zu hören, dass der Bundesrepublik nun erstmals in der Geschichte ein Dreierbündnis in der Bundesregierung bevorsteht. Das stimmt ja so nicht, denn das Kabinett Adenauer I bestand auch aus einer Dreiparteienregierung. Würden Sie sagen, solche fehlenden Geschichtskenntnisse sind ein Ausdruck von Geschichtsvergessenheit?

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Geschichtsvergessenheit vielleicht nicht unbedingt. Aber man kann schon konstatieren, dass historisches Wissen durch den Geschichtsunterricht nicht mehr genügend vermittelt wird. Und auch in der Öffentlichkeit, in den öffentlichen Diskussion fehlt es oftmals an historischem Wissen oder dem Wissen um die historischen Dimensionen der Themen. Viele scheinen das Gefühl zu haben, im Netz sei alles Wissen vorhanden und ich brauche mir das Wissen nicht mehr anzueignen, sondern muss es nur noch verwalten.

Aber warum ist es denn überhaupt wichtig zu wissen, wie das Kabinett Adenauer I aussah oder auch, was vor tausend oder zweitausend Jahren geschehen ist?

Die Orientierung im historischen Raum ist eine wichtige Fähigkeit, um aktuelle Entwicklungen einordnen zu können. Wenn das Wissen um die historischen Dimensionen verloren geht, sind wir sozusagen in der Jetztzeit gefangen und können häufig auch nicht angemessen reagieren. Wenn wir nicht mehr wissen, wie Dynamiken in Gesellschaften entstanden sind und wie sie verlaufen, kann es passieren, dass wir in bestimmten Situationen bei bestimmten Ereignissen überreagieren oder dass wir daraus falsche Schlüsse ziehen.

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Inwiefern?

Alle unsere Urteile beruhen auf Erfahrungen, die wir als Gesellschaft im kollektiven Gedächtnis bewahren. Es ist deshalb wichtig zu wissen, welche Erfahrungen wir verbunden mit welchen Werturteilen gegebenenfalls aufrufen, um aktuelle Probleme einzuordnen – das ist gewissermaßen die Basis, auf der wir uns als Gesellschaft auch über das zukünftige Handeln verständigen. Die mit den historischen Erfahrungen verbunden Werturteile sind stets zeitgebunden und müssen immer wieder kritisch hinterfragt werden – man denke etwa an die sich aktuell wandelnde Einschätzung des Kolonialismus und seine Folgen.

Das Motto des diesjährigen Historikertages lautet „Deutungskämpfe“. Was verbirgt sich dahinter?

Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende wurde auf unterschiedliche Art und in ganz unterschiedlichen Bereichen immer wieder um Deutungsmacht gerungen. Eine der Grundideen dieses Mottos und des diesjährigen Historikertags ist es, diese Prozesse, die Dynamiken der Deutungskämpfe zu hinterfragen und offenzulegen. Das Motto haben wir aber auch mit Blick auf das Partnerland Israel gewählt, wo ja mit jedem neuen Konflikt immer wieder die ganze Tiefe der Geschichte bis weit in die Antike mit aufgerufen wird. Es bezieht sich aber auch zum Beispiel auf die momentanen „Deutungskämpfe“ in unserer Sprache. Das ist ja im Moment ebenfalls ein ganz aktuelles und wichtiges Thema: Wie benennen wir die Dinge, wie verhandeln wir Dinge miteinander? Wie können wir uns über kontroverse Themen als Gesellschaft auseinandersetzen?

Partnerland in diesem Jahr ist Israel

Bleiben wir kurz beim Partnerland: In wenigen Ländern vermischen sich Geschichte und Gegenwart so intensiv wie in Israel. Hat das den Ausschlag gegeben, Israel als Partnerland zu wählen?

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Nein, eigentlich stand im Vordergrund, dass München als aktueller Tagungsort des Historikertags ein sehr wichtiger Standpunkt für viele Forschungseinrichtungen ist, die mit jüdischer Geschichte zu tun haben. Und München spielte natürlich auch für den Aufstieg Adolf Hitlers eine große Rolle, sodass das Ortskomitee, das wir auch immer bei einem Historikertag haben, Israel als Partnerland vorgeschlagen hat. Und wir haben im Ausschuss des Verbandes die Idee dann für gut befunden.

Unsere Gesellschaft ist im Moment ja enorm von Deutungskämpfen geprägt. Sollten sich Historikerinnen und Historiker mehr in die Debatten der Gesellschaft einschalten, als sie es bisher tun?

Ich finde schon, dass sich Historikerinnen und Historiker öffentlich äußern sollten, sie sind eine ganz eigene Stimme im öffentlichen Diskurs. Sie sollten aber nicht versuchen, lösungsorientiert auf gesellschaftliche Probleme zu schauen, das ist eher die Aufgabe von Soziologen und Politikwissenschaftlern. Doch der kritische historische Blick auf Prozesse und auf Entstehungskontexte und eben auch auf die langen Entwicklungslinien in der Geschichte kann eine sehr wertvolle Bereicherung für den öffentlichen Diskurs sein.

Warum sind manche Ihrer Kolleginnen und Kollegen dahingehend eher zurückhaltend?

Wenn Sie Mediävist oder Althistorikerin sind, gibt es nicht so viele Anknüpfungspunkte in öffentlichen Debatten, anders als für Zeithistoriker. Damit hängt auch zusammen, dass die Zeitgeschichte im Vergleich zu anderen Fachbereichen der Geschichtswissenschaft mittlerweile doch sehr dominant ist. Das war vor 50, 60 Jahren noch anders. Und natürlich ist es bei jedem Historiker, bei jeder Historikerin auch individuell unterschiedlich, ob man den Schritt in die Öffentlichkeit wagt, ob man sich quasi ins Feuer stellen will, ob einem die Sprache im öffentlichen Raum liegt oder ob man sich doch sicherer ausschließlich in der wissenschaftlichen Sprache bewegt.

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„Klagen und das juristische Vorgehen der Hohenzollern sind schon ein Massenphänomen“

Ein bekannter Deutungskampf der jüngeren Geschichte ist ja die Frage nach den Entschädigungsforderungen der Hohenzollern gegen den deutschen Staat und die damit zusammenhängende Frage nach der Rolle des ehemaligen Herrscherhauses im Nationalsozialismus. Sie als Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands haben vor nicht allzu langer Zeit eine Homepage gelauncht mit dem Titel „Die Klagen der Hohenzollern“. Was wollen Sie mit dieser Homepage erreichen?

Mit der Homepage möchten wir eine Versachlichung der Debatte und Transparenz erreichen. Die ganze Auseinandersetzung mit diesem Thema wird ja mit harten Bandagen geführt. Einmal im öffentlichen Raum durch Interviews, Essays und Ähnliches, aber eben auch durch die juristischen Schritte der Hohenzollern. Und die Klagen und das juristische Vorgehen sind schon ein Massenphänomen. Wir wollen deutlich machen, welche Ausmaße das juristische Vorgehen gegen Medien, Politiker, Blogger und eben auch Historikerinnen und Historiker angenommen hat und wir wollen gern der Öffentlichkeit zeigen, worum es dabei eigentlich geht.

Und worum geht es?

Die Familie der Hohenzollern hat selbst immer gesagt, es gehe bei den Klagen nur um Falschaussagen, die sie gern verhindern möchte. Und mit dieser Seite wollen wir eben für jeden nachprüfbar machen: Was wird da eigentlich juristisch angegriffen? Das ist natürlich ein sehr wichtiges Phänomen, das wir auch aus anderen Zusammenhängen, aus den USA und aus England, kennen: dass eben mit juristischem Vorgehen versucht wird, eine Debatte zu lenken. Ich finde, so etwas können wir uns als Gesellschaft wirklich nicht leisten.

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Hat die Website schon etwas gebracht?

Ich habe seit der Veröffentlichung der Website von keinen juristischen Unterlassungsforderungen der Hohenzollern mehr gehört, weder an Juristen und Juristinnen, noch an Historikerinnen und Historiker, sodass ich sagen würde, dass diese Seite schon ihren Zweck erfüllt hat, nämlich das Vorgehen der Hohenzollern transparent zu machen.

„Wir sind jünger und sehr viel weiblicher geworden als früher“

Der Historikertag ist wegen der Corona-Krise der erste der Geschichte, der virtuell stattfindet. Können Sie schon sagen, was gut daran ist und was nicht?

Also zunächst einmal: Es ist unendlich viel Aufwand, einen solch großen Kongress in den digitalen Raum zu verlegen. Da sind wirklich alle Beteiligten an die Grenzen ihrer Kräfte gekommen, es ist eine wahnsinnige logistische und organisatorische Herausforderung. Aber über Ergebnisse und Erfahrungen sollten wir uns nach dem Historikertag unterhalten. Man muss sich aber auf jeden Fall hinterher fragen, ob der Aufwand in einem Verhältnis zum Ertrag gestanden haben wird.

Sie sind die erste Frau an der Spitze des Historikerverbands in der doch recht langen Geschichte dieser Institution. Warum hat das so lange gedauert?

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Gute Frage. 125 Jahre hat es gedauert. Die Historiker sind natürlich sehr lange Zeit eine sehr traditionsbewusste Vereinigung gewesen. Unser Verband hat sich aber sehr gewandelt in den vergangenen rund 20 Jahren. Und damit hängt es auch zusammen: Wir sind jünger und sehr viel weiblicher geworden als früher.

Haben Sie das Gefühl, Sie konnten in den vergangenen fünf Jahren Ihrer Amtszeit Weichen stellen, dass Sie nicht die letzte Vorsitzende bleiben?

Ja, ich denke schon. Die langsame Entwicklung zu einer Frau an der Spitze hing natürlich auch damit zusammen, dass die Lehrstühle lange Zeit fast ausschließlich mit Männern besetzt waren. Erst einmal mussten Frauen überhaupt Lehrstühle besetzen, dann sich in der Hierarchie durchsetzen – und dann irgendwann auch in den Verbänden, in den Fachgesellschaften, aufsteigen. Das hat gedauert.

Und wie sieht die Zukunft aus?

Ich habe schon das Gefühl, dass eine große Akzeptanz dafür herrscht, etwa alle Gremien paritätisch zu besetzen. Und ich habe den Eindruck, dass diese Entwicklung nichts Erzwungenes mehr ist und auch nicht mehr als Problem gesehen wird, sondern einfach als selbstverständlich gilt.

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Ein Deutungskampf unserer Tage betrifft die Gendersprache. Wird der Historikertag in naher Zukunft einmal Historiker- und Historikerinnentag oder ähnlich heißen?

Es gibt genau dazu tatsächlich einen Antrag. Aber diese Diskussion müssen wir im analogen Raum führen. Das geht nicht als digitale Debatte. Genau deswegen ist dieser Antrag zurückgestellt worden. Diese Diskussion steht dann beim nachfolgenden Historikertag in Leipzig auf der Tagesordnung.

Prof. Eva Schlotheuber lehrt Mittelalterliche Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2016 wurde sie erste Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen (VHD). Der VHD organisiert den Deutschen Historikertag. Der diesjährige Historikertag in München, der im vergangenen Jahr wegen Corona verschoben werden musste, findet ausschließlich digital statt. Vom 5. bis zum 8. Oktober finden zahlreiche Festveranstaltungen statt, Historikerinnen und Historiker debattieren in Fachsektionen. Partnerland ist Israel. Anmeldungen sind unter historikertag.de möglich, dort ist auch das Programm einzusehen. Zum 125. Jubiläum des VHD wird am Donnerstagabend eine filmische Darbietung gezeigt, die im Stream zu sehen sein wird.

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