Philosophin: „Unser Gewissen ist das Ergebnis einer ethischen Erziehung“
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Kennt sich aus mit Verantwortung: Die Philosophin Ina Schmidt.
© Quelle: privat
Frau Schmidt, bringt es etwas, wenn ich als Einzelner Großereignisse wie Olympia in Peking oder die Fußball-WM in Katar boykottiere?
Die Frage ist, was „bringen“ genau meint und worauf es sich richtet: Eine Wirkung, ein Nutzen, eine Lösung – und wenn ja, für wen? Selbstverständlich wird der persönliche Boykott nichts an der Weltlage ändern oder zu neuartigen Einsichten bei den Entscheidern und Entscheiderinnen führen, aber dennoch ändert sich für uns als Einzelne etwas, je nachdem, wie wir uns entscheiden und aus welchen Gründen wir das tun.
Wovon hängt das denn ab?
Etwa von der Position, die ich selbst einnehme, vielleicht auch davon, was mir diese Entscheidung abverlangt – je nachdem wie sportbegeistert ich bin oder nicht. Ist es ein Boykott, wenn ich ohnehin nie Olympia schaue, und wenn ja, was für eine Haltung muss dem zugrunde liegen? Sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, am besten mit Freunden oder der Familie, bringt ganz sicher etwas, auch wenn sich die Verhältnisse dadurch nicht ändern.
Richtig, Xi Jinping wird seine Politik ja nicht ändern, weil ich den Fernseher ausgeschaltet lasse. Macht man das dann nur, um sich gut zu fühlen?
Möglicherweise. Aber an diesem Wohlgefühl muss ja nichts Verwerfliches sein, solange ich mich nicht in der Vorstellung wohlfühle, allein dadurch moralisch überlegen zu sein, oder glaube, eine Wirksamkeit umzusetzen, die sicher nicht im eigenen Wohnzimmer möglich ist. Aber festzustellen, dass es sich „gut“ anfühlt, der eigenen Überzeugung entsprechend wenigstens nicht Teil einer Situation zu sein, die ich verurteile, ist sicher eine gute und wichtige Erfahrung. Und vielleicht gehe ich dann auch den nächsten Schritt, werde auch öffentlich wirksamer und lasse mich eben nicht wieder in die Sofakissen fallen.
Also kann der Umkehrschluss nicht sein, nichts zu tun, oder?
Ganz genau. Denn auch Greta Thunberg hat sicher nicht ahnen können, dass ein Protest mit einem einsamen Pappschild vor ihrer Schule in Göteborg zum Anlass für eine weltweite Bewegung wurde. Aber sie hat eben nicht nur nicht den Fernseher angemacht, sondern hat zumindest einen öffentlichen Raum gewählt, um ihre Haltung deutlich zu machen. Dahinter steht aber oft genug die Frage, ob wir wirklich eine eindeutige Haltung haben, worauf diese beruht und ob wir uns sicher sind, ein Urteil fällen zu können.
Was meinen Sie damit konkret?
Welches Wissen haben wir, woher stammen die Erkenntnisse, die uns in unseren Urteilen so sicher sein lassen, und was sind letztlich die Grundwerte, von denen unser Handeln getragen sein soll? Das sind große Fragen, aber hin und wieder lohnt es sich, sie zu stellen und zu überlegen – welche Gewohnheiten oder Gedanken hindern mich eigentlich, mich für meine Überzeugungen stark zu machen?
Ist der Satz „Der Einzelne kann eh nichts ändern“ manchmal auch eine Art Schutzmauer gegen Engagement und Anstrengung?
Ja, ganz sicher. Aber es ist eben auch ein verständlicher und oftmals ja sogar richtiger Einwand. Doch auch hier geht es weniger darum, sich dann resigniert zurückzulehnen, sondern zu überlegen, ob es andere Möglichkeiten gibt, tätig zu werden. Oftmals geht es ja viel weniger nur um persönliches Engagement, sondern um Fragen institutioneller Verantwortlichkeiten, in denen Regularien oder Gesetze eingehalten werden müssten, dann aber doch dagegen verstoßen wird.
Dagegen anzugehen ist doch oftmals schwierig bis aussichtslos.
Möglicherweise kann ich als Einzelperson hier nichts ausrichten, aber dennoch könnte ein Aufruf, eine Unterschriftensammlung, ein Gang ins Rathaus der Anfang einer Veränderung sein – also der Umgang mit den politischen Instrumentarien, die wir in einer Demokratie haben, die aber trotz aller Empörung oft wenig konstruktiv genutzt werden. Das ist auch eine Frage, wie wir politische Teilhabe verstehen wollen, die aber nicht nur mit persönlichem Protest zu tun hat, sondern auch mit dem, was wir als Gemeinschaft für gut und richtig halten können.
Es gibt nicht wenige, die trotzdem ihren Protest äußern, indem sie nicht einschalten. Welcher Wunsch, welches Bedürfnis steckt dahinter?
Das kann natürlich ganz unterschiedliche Gründe haben. Aber in den meisten Fällen ist es sicher ein persönliches Statement, eine Entscheidung, die ich auch in Gesprächen mit Freunden oder Bekannten als Standpunkt vertreten kann – und die zum Anfang für ein grundsätzliches Gespräch ethischer Maßstäbe werden kann. Meistens zeigt sich darin, dass die Dinge oft weniger einfach zu beurteilen, weniger schwarz-weiß zu betrachten sind und es dennoch Grenzen gibt, die für uns moralisch nicht verhandelbar sind. Auch vor mir selbst kann ich für diese Grenzen eintreten und – den Fernseher ausgeschaltet lassen.
Kommt man weiter, indem man unterscheidet zwischen einer Moral, die sich daran ausrichtet, was sie bewirkt, und einer Moral, mit der man quasi vor sich selbst bestehen kann?
In der philosophischen Ethik wird zwischen verschiedenen Ebenen unterschieden, auf denen moralisch gehandelt werden kann. Moral sei hier verstanden als die gelebte Form, das eigene wie das gesellschaftliche Leben auf eine gute Weise zu regeln. Was auch immer „gut“ an dieser Stelle heißen mag. Aber genau an diesem Punkt beginnt die Differenzierung, die Aufgabe einer ethischen Betrachtung ist: Es gibt Anhänger einer Verantwortungsethik (ein Begriff, der besonders bei Max Weber herausgearbeitet wurde), die die Folgen des eigenen Handelns als maßgeblich für das ansehen, was eine „gute“ Tat ist. Daraus kann dann die Überzeugung entstehen, dass der Zweck die Mittel heiligen könne, eine Überzeugung, der wir oft genug kritisch gegenüberstehen.
Was wäre eine andere Ebene in der philosophischen Ethik?
Andere verteidigen daher den Ansatz universal gültiger ethischer Maßstäbe, in denen die Gesinnung ausschlaggebend für das ist, was als „gut“ gelten kann, die sogenannte Gesinnungsethik. Dort kommt es also darauf an, was ich für „gut“ halte, egal unter welchen Umständen. Also: Der Verstoß gegen Menschenrechte ist immer verwerflich, Zensur ebenfalls und das Ausbeuten von Arbeitern für Sportstadien kann auch in keinem Fall gut begründet werden. Hier können keine Umstände oder Bedingungen als Erklärungen herhalten.
Beschreibt das „moralische Gesetz in mir“ von Immanuel Kant den zweiten Ansatz, also die Gesinnungsethik?
Ja. Die kantische Ethik ist eine klassische Gesinnungsethik, in der es aber dann ebenfalls zu Konflikten kommen kann. Wenn es zum Beispiel als moralisch verwerflich gilt zu lügen, dann gilt das ganz grundsätzlich und nicht in Abhängigkeit der Situation. Das ist die Maxime, die Kant meint, wenn er in seinem kategorischen Imperativ davon spricht, dass wir unser Handeln jederzeit daran messen lassen müssen, ob es als Maxime für ein allgemeingültiges Gesetz taugen kann. Im Fall der Lüge wären die meisten von uns ganz sicher für Ausnahmen, in denen das „Gute“ auch durch eine Notlüge, oder eine sogenannte „white lie“ geschützt werden kann.
Wie können wir denn entscheiden, was gerade noch das „Gute“ ist und was nicht mehr etwa durch eine Notlüge gedeckt ist?
Die Grenzen zu finden beziehungsweise die eigene Gesinnung in Beziehung zu den Folgen des eigenen Handelns zu denken, das ist eine Aufgabe, der wir uns immer wieder neu stellen müssen und in der wir uns an das halten müssen, was wir unser Gewissen nennen. Eine Instanz, die schwer zu greifen ist, aber deswegen nicht als subjektiv oder gefühlig verurteilt werden sollte. Unser Gewissen ist das Ergebnis einer ethischen Prägung oder Erziehung und macht Einsichten möglich, die wir eher spüren als erklären können, wenn wir uns zum Beispiel aus Bequemlichkeit selbst in die Tasche lügen oder feststellen, dass ein Freund den Fernseher ausmacht, wir aber nicht.
„Wenn ich wirklich nachhaltig leben will, darf ich bestimmte Dinge nicht konsumieren“
Hat jeder Einzelne eine Verantwortung, das Richtige zu tun und sein Verhalten danach auszurichten, auch wenn es keinen Nutzen bringt?
Vielleicht besonders dann, wenn es keinen Nutzen bringt oder wir den Nutzen noch nicht kennen können. Wir sind als Menschen in der Lage, auf unsere Umwelt zu reagieren, Antworten zu geben, zu verändern und zu unterstützen. Das zeigt, dass wir nicht immer entscheiden können, verantwortlich zu sein. Wir sind es. Aber nicht immer in demselben Maße, das hängt von Rollen und Zuständigkeiten ab, die mit diesem Tun verknüpft sind. Wenn wir aber den Anspruch haben, das „Richtige“ zu tun, geht es um den Wunsch, sich ethisch zu verhalten und allein darin eine Bereicherung zu sehen. Gleichzeitig sollten wir darin aber keine hochtrabende edle Tat sehen, sondern den selbstverständlichen Ansatz, sich in den eigenen Entscheidungen um bestmögliche Antworten zu bemühen, die uns eben auch in der eigenen Begrenztheit und dem, was nicht „in unserer Macht“ steht, ernst nehmen. Wichtig ist doch zu klären, was Verantwortung bedeutet: Zunächst geht es nur darum, auf dringliche Fragen, die an mich gerichtet werden, die bestmögliche Antwort zu geben.
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Ina Schmidt hat im vergangenen Jahr das Buch „Die Kraft der Verantwortung“ (Edition Körber, 272 Seiten, 20“Euro) geschrieben.
© Quelle: Edition Körber
Ist Verantwortung mit Verzicht verbunden?
Nicht zwingend, aber die Annahme von Verantwortung führt in jedem Fall dazu, dass wir in dem Maße, in dem wir Position beziehen, eine klare Antwort geben und einen Standpunkt vertreten und damit andere Optionen oder gegenteilige Meinungen ausschließen. Wenn ich Verantwortung übernehme und wirklich zu tragen bereit bin, kann ich mir nicht alle Türen offen halten, sondern muss abwägen und klare Entscheidungen treffen: Wenn ich wirklich nachhaltig leben will, darf ich bestimmte Dinge nicht konsumieren und muss möglicherweise meinen Lebensstil verändern und auf manches verzichten. Ich muss das nicht zwingend tun, dann sollte ich aber auch nicht vor mir hertragen, was ich für ein bewusster und vorbildlicher Mensch bin. Und es geht nicht so sehr darum, unter Verzicht zu leiden, sondern herauszufinden, was mir wichtig ist, welchen Gestaltungsspielraum ich in meinem Leben habe, diese Wichtigkeit auch zu vertreten und schließlich zu erkennen, an welchen Stellen ich dennoch nicht immer in der Lage bin, mich fehlerfrei daran zu halten. Daraus entsteht eine Form der Bescheidenheit für die eigene Fehlbarkeit, die es auch ermöglicht, anderen gegenüber etwas milder aufzutreten, ohne dabei die eigenen Positionen zu verraten.