Protestforscher: Die sozialen Medien werden überschätzt

Geht die olympische Idee unter? Die Spiele in Peking waren umstritten.

Geht die olympische Idee unter? Die Spiele in Peking waren umstritten.

Herr Prof. Rucht, kein Herrscher der Welt wird seine Politik ändern, nur weil ich als Einzelner bei Großereignissen wie Olympia in Peking oder der Fußball-WM in Katar den Fernseher ausgeschaltet lasse. Warum entscheiden sich trotzdem Menschen für einen einsamen TV-Boykott im heimischen Wohnzimmer?

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Ich denke, da kommen mehrere Gründe zusammen. Zum einen gibt es bei manchen sicherlich die Hoffnung auf einen Summeneffekt. Sender achten ja zumindest längerfristig auf ihre Zuschauer- oder Hörerzahlen und bevorzugen eher Sendungen, die dann auch von vielen wahrgenommen werden. Ein Boykott hat vielleicht kurzfristig keinen Effekt, aber kann die Bericht­erstattung unter Umständen längerfristig dann doch beeinflussen. Schließlich haben die Skandale um die Radrennfahrer bei der Tour de France und das dann sinkende Publikums­interesse auch die Fernseh­übertragungen des Radsports verändert und verringert.

Was könnte noch ein Grund für stillen Protest sein?

Ein zweiter Grund ist der, dass man, unabhängig von einem externen Effekt des eigenen Verhaltens, mit sich selbst im Reinen bleiben oder ins Reine kommen will. Das spielt auch innerhalb der Forschung zu sozialen Bewegungen durchaus eine Rolle.

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Inwiefern?

Das zeigt sich, wenn Leute befragt werden: Glauben Sie, dass Ihre Beteiligung an dieser konkreten Demonstration, zum Beispiel gegen den Irak-Krieg 2003, irgendeine konkrete Wirkung zeitigt? 2003 haben rund 10 bis 15 Prozent der Beteiligten die Frage verneint. Das heißt, sie tun etwas, von dem sie sich erst einmal gar keine Außenwirkung erwarten. Wobei das ja eigentlich genau das ist, was man Demonstrierenden zuschreibt: Sie wollen die Politik beeindrucken oder beeinflussen. Es gab dann noch eine Folgefrage: Warum nehmen Sie dann überhaupt teil?

Freunde können eigene Haltung bestätigen

Was haben die Menschen darauf geantwortet?

Da waren solche Antworten zu hören wie: „Ich möchte meinen Kindern oder Enkeln später sagen können, ja, ich habe was gemacht. Vielleicht nicht viel, aber ich habe zumindest ein kleines Zeichen gesetzt. Das ist eine Art innere Entlastung. Man hat so etwas wie ein moralisches Gewissen, das aber auch extern verankert sein kann, nämlich in der Umgebung, die einen selbst beobachtet, oder in den unterstellten Enkeln, die dann nach 30 Jahren solche Fragen stellen.

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Kommen wir zu Punkt Nummer drei.

Der dritte Grund ist, dass man sich durch bestimmte Haltungen oder Verweigerungen – wie etwa bei einem Konsum­boykott – so etwas wie Anerkennung im Kreis der Gleichgesinnten und ähnlich Denkenden verschaffen kann und sich da auch wechselseitig bestätigt. Das heißt, die Leute sprechen dann sehr häufig über ihr Verhalten oder sie tasten ab, wie ihre Umgebung in dieser Sache denkt und handelt. Wenn man den anderen dann verkünden kann: Ich gucke auf keinen Fall mehr hin, ich unterstütze dieses System in China oder das IOC in keiner Weise, wird man unter Umständen noch von seinem Gegenüber mit Worten verstärkt wie: Genauso geht es mir auch. Richtig!

Existiert bei Menschen eigentlich ein Grundbedürfnis, zu protestieren?

Nein, ich glaube, es gibt nicht so was wie ein Protestgen, mit dem man qua Vererbung oder qua Menschsein einen Hang zum Protestieren aufweist. Aber es gibt natürlich Lebenslagen oder konkrete Situationen oder Auslöser, die dann Protest­haltungen und -handlungen befördern. Zunächst muss erst einmal die Wahrnehmung eines Missstandes oder einer Ungerechtigkeit vorliegen, die menschlich oder politisch verursacht ist. Denn gegen ein Erdbeben per Protest und Demonstrationen anzugehen macht wenig Sinn. Aber einen durch Menschen verursachten Missstand nicht nur zu beklagen und sich in sein individuelles Schicksal zu ergeben, sondern mit anderen zusammen zu versuchen, diesen zu beseitigen, das ist ein häufig anzutreffendes Motiv. Es muss allerdings noch eine Reihe von Zusatzfaktoren geben, die dieses Gefühl der Unzufriedenheit oder der Ungerechtigkeit dann in konkrete Handlungen übersetzen.

Was wäre das zum Beispiel?

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Also erst einmal eine überzeugende Deutung. Das ist gar nicht immer trivial zu erkennen, ob hier überhaupt ein Problem vorliegt. Beim Klimawandel ist inzwischen natürlich in aller Munde, dass es sich um ein konkretes Problem handelt, aber vor 30 Jahren war das überhaupt nicht selbst­verständlich – auch wenn es damals schon Klimaforscher gab, die darauf hingewiesen haben. Dann muss anerkannt werden, dass das Problem nicht nur die ganz ferne Zukunft oder nur wenige Leute betrifft, sondern dass es sich wie im Fall des Klimawandels um eine globale und dringende Angelegenheit handelt. Und es muss dann noch dazukommen, dass jemand – das kann eine Einzelperson sein, es können auch Organisationen sein – sagt: „Wir müssen etwas zusammen tun. Wir treffen uns dann und dann an diesem Ort, und wir wählen diese oder jene Aktionsformen.“ Es muss also jemand das Ganze in die Hand nehmen oder initiieren. Und zu diesem Jemand muss Vertrauen herrschen.

Soziologe und Protestforscher: Prof. Dieter Rucht.

Soziologe und Protestforscher: Prof. Dieter Rucht.

Warum?

Es muss natürlich bei den Angesprochenen der Eindruck vorherrschen, ja, es ist eine richtige Deutung der Problematik, ja, das ist ein Akteur, dem ich glauben kann, und ja, das ist auch eine Aktionsform, die mir angemessen erscheint. Es kann auch sein, dass Protest­organisatoren eine Form vorschlagen und es kontroverse Meinungen dazu gibt.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen wir die aktuellen Blockaden an den Autobahn­zubringern in Berlin und anderswo. Da sagen die einen: „Das ist toll, wie ihr das macht, das unterstütze ich.“ Und der große Rest sagt: „Das verstehe ich nicht. Die blockieren jetzt Autobahnen, aber es geht jetzt um die Verschwendung von Lebensmitteln. Wo ist da der Zusammenhang?“

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Wichtig bei Protesten ist ja immer auch, Öffentlichkeit herzustellen. Demonstrationen sind ein klassisches Mittel. Welche Rolle spielen heute die sozialen Medien dabei?

Sie spielen eine große Rolle, werden aber dennoch, das ist jedenfalls meine Position, überschätzt. Vor allen Dingen viele junge Aktivistinnen und Aktivisten meinen, ohne das Internet käme dieser oder jener Protest gar nicht zustande oder zumindest nicht in der jeweiligen Größenordnung. Da herrscht dann oft Unwissenheit vor über die Möglichkeiten, wie früher und auch in welchem Umfang früher Proteste stattfanden. Was sich allemal geändert hat, ist natürlich die Geschwindigkeit, mit der Öffentlichkeit hergestellt werden kann und auch wie sehr die finanziellen Kosten für die Verbreitung von Informationen sinken. Aber was überschätzt wird, ist, dass man durch Schnelligkeit und Reichweite allein noch nicht die Leute mobilisieren kann.

„Ich möchte mich im Einklang mit meinen Überzeugungen verhalten“

Warum gelingt das nicht?

Vor allen Dingen auch deshalb nicht, weil das Publikum oder die Angesprochenen zeitgleich oder in einem knappen Zeitraum geradezu bombardiert werden mit Aufrufen und Aufforderungen, zu spenden, mitzumachen, zu unterschreiben. Durch die Fülle dieser Anliegen, die ja im Internet keinerlei Platz­beschränkung oder Energie­restriktionen unterliegen, geht das einzelne Anliegen dann manchmal unter. Denn das Aufmerksamkeits­vermögen der Beteiligten und auch deren finanzielle oder zeitliche Ressourcen bleiben ja begrenzt, sodass wir zwar eine immer größere Nachfrage haben, sich politisch zu engagieren, aber diese Nachfrage eben aufgrund der begrenzten Ressourcen­kapazitäten nicht befriedigt werden kann.

Wie ist es mit Ihnen? Halten Sie die Entscheidung, Olympia als Fernseh­zuschauer zu boykottieren, für sinnvoll?

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Es ist kein besonders eindrucksvolles Mittel. Aber ich habe mir während der Spiele in Peking auch gesagt, ich halte mich da aus dem Geschehen heraus. Ich habe zwar in den Nachrichten verfolgt, wer eine Medaille gewinnt. Aber ich habe nicht vor dem Fernseher gesessen, um einzelne Wettkämpfe zu anzusehen. Und ich tue diese Haltung, dass ich das Ganze aus einer politisch-ideologischen Haltung her sehr distanziert betrachte, kund. Ich bin kein Missionar, aber ich würde umgekehrt mit meiner Meinung auch nicht hinterm Berg halten.

Aus welchem Ihrer drei Gründe haben Sie sich die Spiele nicht im Fernsehen angeschaut?

Aus dem zweitgenannten Grund. Ich habe bestimmte Überzeugungen und möchte mich auch im Einklang mit diesen Überzeugungen verhalten. Nicht zuletzt wäre weltweit gesehen ein höheres Interesse an diesen Olympischen Spielen noch mal eine Bestätigung für das IOC, dass man auch in Zukunft wieder die Spiele in solche Länder geben kann.

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