Räume für Träume: Der „Atlas der nie gebauten Bauwerke“
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Den Menschen und die natürlichen Ökosysteme miteinander versöhnen: Die Asian Cairns des Architekten Vincent Callebaut wurden nie gebaut.
© Quelle: Verlag
Hannover. Die Fahrt geht die Champs-Élysées hinunter, Richtung Westen. Die berühmte Avenue zieht sich und zieht sich, unverkennbar steht das weltberühmte Bauwerk auf der Place Charles-de-Gaulle. Es ist – nein, es ist nicht der Arc de Triomphe, – sondern ein monumentaler Elefant.
Aus dem Rüssel steigt eine Wasserfontäne empor, eine Treppe führt in den Bauch des Bauwerks. Im Innern zwei Stockwerke mit Speisesaal inklusive einem kleinen Bach, ein Thron- oder Ballsaal, im Kopf des Elefanten ein kleineres Kabinett. In den Ohren sorgen Megafone dafür, dass Orchestermusik nach außen auf die Straße dringt. Was soll das sein, ein tierischer Spaß? Nein. Wäre es nach dem französischen Architekten Charles François Ribart de Chamoust gegangen, stünde tatsächlich ein solches Mammutbauwerk dort, wo heute der Triumphbogen steht.
Die Geschichte dieses traumhaften Triumphelefanten erzählt der Engländer Philip Wilkinson in seinem neuen Buch „Atlas der nie gebauten Bauwerke“ (dtv, 256 Seiten, 30 Euro). Es ist eine Sammlung von 50 architektonischen Visionen – Gebäuden, Ensembles, Städten –, die allesamt Visionen blieben.
Phantomgebäude mit großem Einfluss
„Manche dieser Phantomgebäude sind Höhepunkte persönlichen Schaffens, andere sind entscheidende Schritte in der Entwicklung eines Architekten oder der Architekturgeschichte“, schreibt Wilkinson. „Manche hatten großen Einfluss auf andere Architekten, manche sind nur charmante Kuriositäten.“
Eine dieser Kuriositäten ist die Walking City des Londoner Architekten Ron Herron. Angesichts der Kuba-Krise und der atomaren Gefahr hatte Herron Mitte der Sechzigerjahre der Öffentlichkeit sein Konzept einer beweglichen Stadt vorgestellt. Die Walking City sollte aus einem „vielstöckigen, eiförmigen Gebäude mit spinnen- und insektenartigen Beinen“ bestehen, das laufen konnte. So sollte sie von Atomraketen nur schwer zu treffen sein, und andererseits sich dorthin bewegen können, wo Not am Mann war.
Obwohl dieser und andere Entwürfe der Architektengruppe Archigram nicht mehr als pure Science-Fiction oder auch Pop-Art sein konnte, hatten ihre Ideen Einfluss auf andere Baumeister. So ließen sich Renzo Piano und Richard Rogers beim Centre Pompidou in Paris von den Entwürfen von Ron Herron und seinen Kollegen leiten.
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Das Kenotaph des französischen Architekten Étienne-Louis Boullée für Isaac Newton mit einer Kuppel, größer als die ägyptischen Pyramiden wurde nie gebaut.
© Quelle: Sonntag Architektur
Als wegweisend für die Zukunft erwies sich auch Ludwig Mies van der Rohes Entwurf für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße. 1921 war unter anderem von den Unternehmern Heinrich Mendelssohn und Hugo Stinnes ein Architektenwettbewerb für das Spreedreieck genannte Grundstück ausgerufen worden. Mies van der Rohes Entwurf bestach durch eine dramatisch gegliederte Glasfassade. „Die Fassaden hatten keinerlei konventionelle Mauern. Ihre Wände waren vielmehr von oben bis unten durchsichtig. Noch nie hatte jemand ein solches Gebäude entworfen“, schreibt Wilkinson.
Den Wettbewerb gewann Mies van der Rohe zwar nicht, und die technischen Möglichkeiten der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts hätten auch noch nicht ausgereicht, um ein solches Hochhaus zu bauen. Doch die spätestens in den Fünfzigerjahren begonnene Entwicklung, Hochhäuser mit Glasfassaden zu verkleiden, fand ihren Anfang in der Utopie von Ludwig Mies van der Rohe.
Wilkinsons Buch ist nicht nur ein Buch für Architektur- und Stadtplanungsfreunde. Im Gegenteil: Der Autor beschreibt jede der 50 Visionen leicht verständlich auf je vier Seiten. Die reichhaltigen Bebilderungen unterstützen das leichte Verständnis. Die Reise beginnt bei dem Entwurf eines idealen Klosters in St. Gallen aus dem Jahr 820.
Von der Renaissance zur Smart City
Sie führt über Stadtplanungsideen der Renaissance mitsamt Leonardo da Vincis Stadt auf zwei Ebenen und die Zeit der Aufklärung mit einem riesigen Mausoleum für Isaac Newton (mit einer Kuppel, die größer als die ägyptischen Pyramiden sein sollte).
Nach dem 19. Jahrhundert, unter anderem mit der sozialen Stadtutopie des Unternehmers und Frühsozialisten Robert Owen, und Ideen aus dem 20. Jahrhundert, etwa mit der Vision des Tribune Towers in Chicago in Form einer antiken Säule von Adolf Loos, endet der Parforceritt durch die architektonischen Fantasiewelten in der Gegenwart.
Dort angelangt, zeigen sich Ideen, die Anstöße geben können für die großen aktuellen Debatten über Bauen und Bewohnen, über geschlossene und offene Städte, über Smart City und Klimaschutz unserer Zeit. So hat vor wenigen Jahren der belgische Architekt Vincent Callebaut im chinesischen Shenzhen seine Vision der Asian Cairns entwickelt.
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Hyperbuilding von Rem Kohlhaas.
© Quelle: Sonntag Architektur
Auf einem kreisförmigen Bauplatz wollte der junge Ökovisionär sechs rund 300 Meter hohe Hochhäuser bauen. „Jeder Turm besteht aus einem schlanken, rechtwinkligen, etwa 300 Meter hohen Wolkenkratzer. Aus diesen Türmen wachsen über ein Dutzend gläserne Blasen heraus, die der Form nach an rund geschliffene, flache Steine erinnern“, beschreibt Wilkinson das Projekt. Und: „Die Blasen können auch mit Solarpaneelen bestückt werden. Einige sind oben offen, damit Bäume herauswachsen können, und überall am Haus sind kleine Windturbinen (Vertikalläufer) zur Stromerzeugung befestigt.“
Callebaut schreibt selbst über seine Asian Cairns, er wolle den Menschen und die natürlichen Ökosysteme miteinander versöhnen. Mit seiner Idee zeigt er, wie wichtig die Frage, wie die Anforderungen der modernen Stadt und der weiter wachsenden Menschheit mit den Bedürfnissen der Natur vereint werden können, heute ist.
Denn die Zukunft der Stadt wird die Zukunft der Menschheit entscheidend mitprägen. Schon heute leben fast 50 Prozent der Weltbevölkerung in Städten. 2050 werden es, so lauten Schätzungen, zwei Drittel der Menschen sein. Die Diskussion, welche Folgen dies für Stadtplaner wie für Stadtbewohner haben wird, ist in vollem Gange.
Die Ideen von heute können die Stadt von morgen prägen
Gesucht werden Lösungen, wie mehr bezahlbarer Wohnraum und wie mehr öffentlicher Raum geschaffen werden, wie die Energiewende umgesetzt und klimafreundliche Städte entwickelt werden können. Und die Debatten laufen: Der amerikanische Stadtsoziologe Richard Sennett plädiert in seinem neuen Buch „Die offene Stadt“ (Hanser, 400 Seiten, 32 Euro) für eine Ethik des Bauens und Bewohnens.
Er sieht einen elementaren Unterschied „zwischen dem, wie Menschen leben möchten, wie sie gezwungen sind zu leben und wie Städte gebaut werden“. Der 73-Jährige beschreibt in seinem Buch unter anderem, wie sich geschlossene Städte, die sich etwa durch Abgrenzungen von Reichen in „Gated Communitys“ auszeichnen, immer mehr durchsetzen. Er will dieser Entwicklung das Konzept der „offenen Stadt“ entgegensetzen.
Wie das genau aussehen kann, bleibt relativ offen. Die vielen aktuellen Herausforderungen der Architektur und Stadtplanung brauchen vielfältige Visionen. Die gab es immer, und sie wird es auch in Zukunft geben. Philip Wilkinsons spannendes, unterhaltsames und lehrreiches Buch zeigt, dass die Ideen von heute die Gebäude von morgen sein können.
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Cover.
© Quelle: Sonntag Architektur
Von Kristian Teetz