Saltatio Mortis bieten „Brot und Spiele“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/YC6NNKOTXIN6QNFNHRHIYQTXTI.jpg)
Am St.-Nikolai-Friedhof an der Goseriede: Alea der Bescheidene von Saltatio Mortis beim Treffen in Hannover.
© Quelle: Michael Wallmüller
Hannover. Der Spielmann reist mit Bus und Bahn und leichtem Gepäck. Zwölf Tage schon ist Alea der Bescheidene (40), Sänger der Mittelalter-Rocker Saltatio Mortis, der mal auf den Namen Jörg Roth getauft wurde, unterwegs, als er sich mit uns trifft. Neben Rollköfferchen und Umhängetasche hat er auch das neue Album seiner Band dabei, „Brot und Spiele“. Ein Gespräch über Europa und Populismus, Charlie Chaplin und Ray Charles.
Drei Jahre sind vergangen seit „Zirkus Zeitgeist“. Jetzt haben Sie einen neuen Produzenten ...
... vor allem haben wir eine neue Art zu produzieren. Früher haben wir uns drei- bis viermal eingeschlossen in ein Ferienhaus, haben geschrieben, sind ins Studio gegangen und haben aufgenommen.
Was der Tatsache geschuldet ist, dass man acht Leute unter einen Hut bekommen muss?
Bei den ersten Songwritings sind wir eigentlich immer nur vier oder fünf. Dieses Mal haben wir aber viel mehr zusammengearbeitet. Und wir haben uns nicht irgendwo eingeschlossen, sondern im Studio. Wir haben mit Vincent Sorg ...
... dem Produzenten unter anderem der Toten Hosen ...
Genau. Mit dem haben wir die Songs Stück für Stück zerlegt. Er hat etwas ganz Großartiges gemacht: Er hat geguckt: An welchen Stellen wippt jeder mit? Wo guckt man eher ein bisschen durch die Gegend? Und dann hat er gefragt: „Was gefällt euch an dem Part nicht?“ „Ach, der ist schon in Ordnung.“ „Ist er so gut wie der Part vorher?“ „Nee, müssen wir noch dran arbeiten.“ Und er so: „Nein, löschen!“ Stellenweise blieben nur kleine Essenzen von den Songs übrig. Und mit denen haben wir weitergearbeitet. Und Vince hat immer geguckt: Wie ist die Reaktion in dem Raum?
Wie war sie?
Gut. Und was großartig war: Wir sind immer wieder an einen Punkt gekommen, wo wir dachten, das können wir doch nicht machen; da springen uns die Fans an die Gurgel. Und da hat er gesagt: „Ihr seid doch nur ihr selbst, wenn ihr die Musik macht, die ihr gerne machen wollt.“ Diesen Mut, Genre-Grenzen zu brechen, mit Leidenschaft Musik zu machen, zu gucken, was kommt, hat er uns gemacht.
War die Leidenschaft vorher etwa verloren gegangen?
Nein, aber man war halt ein eingespieltes Team. Man wusste: Man macht einen Refrain, da kommen Dudelsäcke drunter. Da muss das sein, da muss das sein ... Auf die Idee, einen Dudelsack unter einen „Oh-ho-ho“-Refrain zu packen wie jetzt bei „Große Träume“ wären wir nicht gekommen. Man wird ein bisschen betriebsblind: „Es muss doch so sein.“ Nein, muss es nicht. Musik ist Energie, ist Freude, und das ist „Brot und Spiele“: geballte Emotion, geballte Musik.
Der Titel selbst aber ist eine Kritik, eine sehr alte Kritik, geäußert vom alten Römer Juvenal an den Machthabern, die das Volk mit Brot und Spielen ruhigstellen.
Ja, es ist aber auch eine sehr aktuelle Kritik. Lasterbalk, unser Texter, ist ein wahnsinnig belesener Mensch. Er interessiert sich insbesondere für Historie. Er hat gesagt, ihm ist es wichtig, widerzuspiegeln, dass wir an einem Punkt sind, wo sich wieder populistische Kräfte auf Mauern stellen und sagen: „Römer, euer Brot wird von Nicht-Römern gefressen.“
Vor drei Jahren haben Sie mir gesagt:
"Noch klarer als wir kann man sich doch kaum gegen die braune Szene positionieren." Nun positionieren sie sich mit dem Lied "Besorgter Bürger" noch klarer.
Wir sind der Meinung, dass wir als Musiker einen Job haben. Wir bekommen nämlich etwas ganz Seltenes in dieser Zeit: Wir bekommen Gehör. Das müssen wir nutzen, einmal um zu sagen: „Hört nicht auf diese Leute.“ Und auf der anderen Seite: „Die Welt ist nicht nur schlecht. Macht mal eure Augen auf, macht mal euer Herz auf. Es gibt noch so viel Anderes.“ Darum ist mir ein Song wie „Spur des Lebens“ so wichtig.
In dem die Frage aufgeworfen wird, ob man Kinder in diese Welt setzen darf.
Ja, wir haben mit diesem Text zusammengesessen, und Lasterbalk, der Texter, hat gesagt: „Ich möchte in diese Welt keine Kinder setzen.“ Und ich habe gesagt: „Aber ich singe diesen Text und bin anderer Meinung.“ Ich bin nämlich der Meinung, man sollte.
Man kann das Kinderkriegen ja auch nicht nur den Doofen überlassen.
Das haben Sie jetzt gesagt (lacht). Ja, aber wir haben viel diskutiert. Till, unser Gitarrist, hat sich total stark für meine Seite gemacht: damit man die Dinge, von denen man denkt, dass man sie richtig macht, auch weitergibt und den kleinen „Funken Hoffnung“, wie es jetzt im Text steht, zu setzen.
Sie sind noch kein Vater?
Nein, mit 40 Jahren habe ich dieses Abenteuer noch nicht erlebt. Aber das Leben wird seinen Weg finden. Charlie Chaplin hat das auch in hohem Alter noch hingekriegt.
Den schätzen Sie?
Ja, das war ein sehr wacher Mensch, der vieles getan hat, was wir mit „Brot und Spiele“ auch tun: Aufmerksamkeit für die Welt, nämlich für die Politik und auch für die innere Welt, für das Schöne und das Traurige in der Welt. Chaplin gehört zu den Menschen, vor denen ich sehr, sehr viel Achtung habe. Ich finde, die Rede seines Tramps am Ende von „Der große Diktator“ sollte mindestens einmal in jeder Klasse gezeigt werden.
Das Album selbst ist eine bunte Tüte geworden, inhaltlich wie formal: Da geht es mal ums Saufen, mal um die Zukunft von Europa ...
Das ist Ergebnis all der Diskussionen, die wir geführt haben. Wo Lasterbalk die Politik wichtig war, war mir die Lebensfreude wichtig. Und dem nächsten waren die persönlichen Geschichten wichtig wie „Träume aus Eis“, in denen man sich wiederfinden kann. „Europa“ ist uns wichtig, weil es doch wundervoll ist, so ohne Grenzübergang durch Europa zu reisen, sich einander anzunähern und in dieser sehr langen Friedenszeit zu leben. Diese Friedenszeit zu verlängern, ist mir jedes Geld wert, was Europa kostet. Vielleicht kann man ja ein bisschen wachrütteln.
Sie thematisieren auch, dass manchen Leuten politische Themen in Ihren Songs aufstoßen.
Für die haben wir „Dorn im Ohr“ aufgenommen. Wir müssen uns für Politik interessieren. Wir müssen auch wählen gehen, verdammt noch mal. Denn wir haben die Wahl. Aber, wie gesagt, mir sind auch andere Songs wichtig. So etwas wie „Nie wieder Alkohol“, was auf einer Geschichte basiert, die Lasterbalk erlebt hat.
Dass er in einem fremden Zimmer aufgewacht ist, in dem er nur hohe Stiefel und in einem Regencape fand?
In einem fremden Zelt auf einem Mittelaltermarkt. Und dann ist er tatsächlich in diesen Stiefeln und dem Cape über den ganzen Markt gelaufen und hat seine Hose gesucht. „Wo ist meine Hose, und wie konnte das passieren?“ – das ist tatsächlich passiert. Aber das mit dem Arschgeweih, das ist dazuerfunden.
Auch bei der Aufnahme von „Mittelalter“ soll es fröhlich zugegangen sein.
Wir hatten die Band Knasterbart, also den Malte von Versengold und den werten Mr. Hurley von den Pulveraffen, dafür begeistern können. Weil: Das ist doch unsere Geschichte. Ich meine, ich mache diesen Wahnsinn jetzt seit fast 20 Jahren. Und wenn ich in den Spiegel gucke, kann ich mich wirklich fragen: „Was hat das Mittelalter aus mir gemacht?“ Das war eine Gaudi, das aufzunehmen.
Für die Deluxe-Edition haben Sie noch ein komplettes Album dazu gepackt. Wie kam es dazu?
Es war die Idee: Lasst uns doch als Bonus etwas Besonderes machen, ein paar Songs zusätzlich. Dann haben wir festgestellt, es gibt so viele akustische Songs, die wir noch nie veröffentlicht haben. So wurde eine komplette CD daraus. Die gibt es jetzt für vier Euro extra.
Wohin soll es gehen? Das Album klingt nach einer Band, die es jetzt richtig wissen will.
Ray Charles hat mal gesagt: „Wer in Pfennigen denkt, wird Pfennige erhalten.“ Und wenn ich in kleinen Clubs denke – die ich sehr liebe –, dann werden wir dort bleiben. Aber ich möchte irgendwann mal heulend vor Überwältigung auf der Bühne in einem Stadion auf die Knie fallen und „Danke“ sagen.
Arbeiten Sie eigentlich noch als Kung-Fu-Lehrer?
Im Moment komme ich leider kaum dazu. Ich gebe ein paar Fernkurse über Skype. Aber es ist ein großer Teil meines Lebens. Und in China hat mir mal ein Meister gesagt: „Kung-Fu“ ist alles, was du mit absoluter Leidenschaft tust. Demnach gehe ich jeden Abend auf die Bühne und mache Kung-Fu.
Von Stefan Gohlisch