„Thelma“ – Carries kleine Schwester
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Unterdrückt: Thelma (Eili Harboe) wird von ihren religiösen Eltern kontrolliert. Als sie sich in Anja verliebt, setzen ihre Gefühle übersinnliche Kräfte frei.
© Quelle: koch
Hannover. Ein mit einem Gewehr bewaffneter Mann und ein Mädchen beobachten in einem verschneiten Wald ein Reh. Erst legt der Vater auf das Tier an, plötzlich zielt er, hinter deren Rücken, auf seine Tochter. Dann wendet er sich wieder dem Wild zu. Die Bedeutung dieser verstörenden Eröffnungsszene wird sich erst später erschließen. Aber der Ton des neuen Films von Joachim Trier („Louder Than Bombs“) ist damit bereits gesetzt.
Rätsel um die verschwundene Liebe
Nach der Titeleinblendung sehen wir die auf dem Land aufgewachsene Thelma (Eili Harboe), das Mädchen aus der Auftaktsequenz, als Studienanfängerin in Oslo. Ihre Eltern (Henrik Rafaelsen, Ellen Dorit Petersen) behelligen sie mit Kontrollanrufen. Es fällt ihr schwer, sich einzuleben. Nach einem epilepsieartigen Anfall lernt sie Anja (Kaya Wilkens) kennen und verliebt sich in sie. Mit ihr genießt Thelma ihre neue Freiheit, gerät aber auch in Konflikt mit ihrer streng religiösen Erziehung. Nach einem medizinischen Experiment, das wegen ihrer sich nun häufenden Anfälle angesetzt wurde, ist Anja verschwunden ...
Das übersinnliche Moment kommt spät zum Tragen
Thelma erscheint wie eine entfernte Verwandte von Stephen Kings „Carrie“, die ebenfalls streng religiös aufwächst und über übernatürliche Kräfte verfügt. Allerdings geht es in Triers Werk wesentlich unblutiger zu als in der Erstverfilmung von Kings Roman durch Brian de Palma. Der norwegische Regisseur arbeitet mit weniger drastischen Mitteln, die gleichwohl ihre Wirkung nicht verfehlen. Dazu zählen einige wahrhaft unheimliche (Alb-)Traumsequenzen. Zudem kommt das übersinnliche Moment erst spät zum Tragen. Zunächst in Rückblenden, die auch den Vorfall im winterlichen Wald erklären.
Schon deshalb ist „Thelma“ kein reiner Horrorfilm. Ein standardisierter erst recht nicht. Trier und sein Co-Autor Eskil Vogt widmen sich auch einfühlsam den Unsicherheiten und der seelischen Verwirrung ihrer Titelheldin, deren vielfältige Facetten Eili Harboe perfekt zum Ausdruck bringt. Das Ergebnis ist eine fein abgestimmte Mischung aus Coming-of-Age-Drama und Mystery-Thriller, die von Norwegen für den Auslands-Oscar eingereicht wurde – und es durchaus verdient gehabt hätte, in die Endauswahl zu kommen.
Von Jörg Brandes / RND