Was sollten wir unbedingt lesen?

Von Ingeborg Bachmann bis zu Harry Potter: Ein persönlicher Kanon von Helene Hegemann.

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Berlin. Jonathan Littell – „Die Wohlgesinnten“

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Die fiktive, in reale Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges eingebundene Biografie eines SS-Offiziers. Jonathan Littell hat diesen Roman im Alter von 39 Jahren geschrieben, nach fünf Jahren Recherche: 1400 Seiten in 150 Tagen. Ich habe das Buch zweimal angefangen und wieder zur Seite gelegt – beim dritten Mal aber fünf Tage lang nicht mehr aus der Hand gelegt und mehr über Krieg und Dogmatismus und die Opferung von Menschen auf dem Altar abstrakter Begriffe gelernt, als in neun Jahren Schule.

Pitigrilli – „Kokain“

Guter, harter, schlauer Unterhaltungsroman von 1921. Habe das zum ersten Mal mit 15 Jahren gelesen, bestimmt nur aufgrund der Legende, dass sich Alexander Scheer bei der Premiere der „Kokain“-Inszenierung an der Volksbühne in Berlin mit einem nicht präparierten Messer das Handgelenk aufgeschnitten hätte – und trotzdem, mit zugehaltener Pulsader, drei Stunden lang weiter gespielt hätte. (Ist keine Legende, stimmt wirklich.)

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Knut Hamsun – „Hunger“ und „Mysterien“

Knut Hamsun, Norweger, hat 1920 den Nobelpreis für Literatur bekommen. Leider ist er irgendwann Nazi geworden – 1943 hat er dann immerhin, nach einem Bierglas voll Cognac, Hitler auf dem Obersalzberg vor versammelter Mannschaft angebrüllt. Was zuvor offenbar noch niemand getan hatte.

In „Hunger“ streift ein armer Schriftsteller durch das heutige Oslo und macht irres Zeug; weil Hunger eben irre macht. In „Mysterien“ streift ein mysteriöser Mann in gelbem Anzug durch eine Kleinstadt. Das Zeug, das er macht, ist genauso irre, wie es die Handlungen des Protagonisten in „Hunger“ sind. Mit dem Hunger fehlt diesmal aber die Rechtfertigung, der Typ aus „Mysterien“ hat Geld und keine offensichtlichen Probleme. Trotzdem, oder gerade deshalb, bringt er sich am Ende um.

Man liest das wie „Harry Potter“, obwohl es wirklich alle Gesetze des Geschichtenerzählens unterwandert. Die Biografie von Hamsun, Bestseller in Norwegen, ist so irre, dass sie als so eine Art Authentizitätsbeleg für seine Romane durchgeht.

Ian McEwan – „Erste Lieben, letzte Riten“

Frühe Kurzgeschichten von Ian McEwan. An die Story, nach der das Buch benannt ist, denke ich seit Jahren zweimal pro Woche.

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Ingeborg Bachmann – „Erzählungen“

Mit dem Buch verhält es sich ähnlich, die tollsten Geschichten heißen „Alles“ und „Das dreißigste Jahr“.

Louis-Ferdinand Celine – „Reise ans Ende der Nacht“

Muss jetzt leider aus einer „Zeit“-Ausgabe von 2003 zitieren: „Céline war ein widerwärtiger Kerl, aber sein Roman ,Reise ans Ende der Nacht’ ist grandios und revolutionär.“

Donna Tartt – „Die geheime Geschichte“

Auf Donna Tartt bin ich zufällig gestoßen, im Internet. Name nie gehört vorher. Ich glaube, ich lag komplexbeladen in einem Hotelzimmer, 18 oder 19, fühlte mich unzulänglich, wegen was, weiß ich nicht mehr, wollte das dann damit kompensieren, eine „Guardian“-Liste der Top-100-Weltliteratur vollständig durchzuarbeiten (zum Glück nie gemacht).

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Donna Tartts „Die geheime Geschichte“ war das erste und einzige Buch auf der Liste, das ich gekauft habe. Weil mir ihr Name gut gefiel. Sofort aus meiner Depression raus gelesen, schenke es seitdem allen unter 20-Jährigen, die mir begegnen.

Peter Nadas – „Parallelgeschichten“

In meinem Roman „Bungalow“ kommt folgende Passage vor, irgendwo im letzten Drittel: „Ich frage meinen Kumpel, ob er ein bestimmtes Buch kennt, das ich mag, er kennt es nicht. Er liest nicht. Niemand liest. Nicht mal ich lese richtig, ich behaupte, noch zu lesen, dabei muss ich jedes Mal nach zehn oder fünfzehn Seiten aufhören, weil die Buchstaben verschwimmen und mir Kopfschmerzen machen.

Es ist ein Buch, das vor unserem Krieg geschrieben wurde, aber im Krieg spielt, und ich sage, dass mir eine Stelle besonders in Erinnerung geblieben ist und ich in ihr den Beweis dafür sehe, dass der Autor all das selbst erlebt haben muss.“ Und dieses Buch ist „Parallelgeschichten“ von Peter Nadas.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski – „Der Idiot“

Dieses Buch steht meiner Meinung nach stellvertretend für die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, die sich bekanntermaßen beispiellos mit der Falschheit in zwischenmenschlichen Beziehungen auseinander gesetzt hat.

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J. K. Rowling – „Harry Potter, Teil III“

In meinem ganzen Leben nichts so abgrundtief gern gelesen wie „Harry Potter“, zwischen 9 und 12, immer wieder. War auch eine der Minderjährigen, die vor der Veröffentlichung des fünften Bandes um Mitternacht vor der Buchhandlung rumhingen, in Hermine-Kostüm.

Glück gehabt, weil zur richtigen Zeit im richtigen Alter. Teil III immer am liebsten gemocht, aber nur, weil er der am wenigsten eindringliche (also der schlechteste) ist. Deshalb vergisst man immer, was drin stand, und kann ihn immer wieder lesen.

Helene Hegemann bei der Abschlussveranstaltung des 'Runden Tisch Frauen in Kultur und Medien' im Bundeskanzleramt.

Helene Hegemann bei der Abschlussveranstaltung des 'Runden Tisch Frauen in Kultur und Medien' im Bundeskanzleramt.

Zur Person: Mit ihrem Debüt „Axolotl Roadkill“ sorgte Helene Hegemann 2010 gleich für einen handfesten Literaturskandal. Mit ihrem aktuellen dritten Roman „Bungalow“ stand die 26-Jährige auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Der Gastbeitrag ist im Stil ihrer Romane geschrieben.

Von Helene Hegemann

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