Wie neue Medien die Erinnerungskultur verändern
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Gedenken: Die Ludwig-Maximilians-Universität in München erinnert an Sophie Scholl.
© Quelle: imago images/Ralph Peters
Hannover. Es ist aussichtslos, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aber um so etwas wie Gewinnen geht es bei „Through the Darkest of Times“ nicht. Vielmehr greift das Computerspiel den Widerstand in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus auf, ohne Trivialisierung, mit viel Fingerspitzengefühl. Die Spielenden schlüpfen in die Rolle des Anführers einer Widerstandsgruppe und planen im Berlin der Dreißigerjahre Woche für Woche neue Aktionen. Man besorgt Geld, schmuggelt, verteilt Flugblätter oder befreit andere Widerständler. Jedes Mitglied der Gruppe hat besondere Eigenschaften, jedes seine eigene Geschichte.
Gelungenes Beispiel für Geschichtsvermittlung
Anders als bei herkömmlichen Strategiespielen haben die getroffenen Entscheidungen selten großen Erfolg. Und dazwischen erzählen Einschübe von Bücherverbrennungen, von Judenhass, von der Angst um das eigene Leben. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, wie man selbst gehandelt hätte. „Through the Darkest of Times“ ist ein gelungenes Beispiel für moderne Geschichtsvermittlung, abseits von Klassenzimmer und Gedenkstätten.
Steffen Jost, Historiker und Programmdirektor der Alfred Landecker Foundation, hält solche neuen Formate für wichtig. „Erinnerungskultur muss am Puls der Zeit bleiben und kann sich nicht nur auf einer Top-down-Erinnerungskultur in Schulen oder Museen ausruhen. Innovative Geschichtsvermittlung birgt das große Potenzial einer freiwilligen Beschäftigung mit unserer Vergangenheit“, sagt er. Doch das bedeute auch, Kompromisse zu machen und sich neuen Nutzungsgewohnheiten zu stellen, ohne dabei die Frage nach einer adäquaten Vermittlung aus den Augen zu verlieren.
Es bleibt ein Balanceakt
Wie schwierig dieser Balanceakt sein kann, zeigt das Beispiel des aktuellen Instagram-Projekts „Ich bin Sophie Scholl“ von Bayerischem Rundfunk und Südwestrundfunk. Auf der Social-Media-Plattform zeigt Sophie Scholl, gespielt von Luna Wedler, die letzten Monate ihres Lebens: das Studium in München, die Beziehung zu ihrem Freund Fritz, das Verhältnis zu ihrem Bruder Hans, den Widerstand der Weißen Rose. Zehn Monate lang, in Echtzeit erzählt, hochkant gefilmt, mit Zeichnungen und Bildern ergänzt, mal sind es echte Zitate, mal Fiktion.
Es ist nicht der erste Versuch dieser Art. Mit „Eva Stories“ wurde das Tagebuch von Eva Heymann als Instagram-Format umgesetzt. Die 13-Jährige war 1944 in Auschwitz ermordet worden. „Natürlich haben solche Formate ihre Schwächen und bergen auch Gefahren. Bei ‚Sophie Scholl‘ genau wie bei ‚Eva Stories‘ sehen wir vor allem einzelne Schlaglichter losgelöst vom größeren historischen Kontext oder umfangreicher und notwendiger Einordnung“, sagt Jost. Gleichzeitig dürfe man nicht übersehen, dass hier eine neue und größere Zielgruppe erreicht werde. Vielleicht eben jene, die sonst keine Scholl-Biografie lesen oder keine KZ-Gedenkstätte besuchen würde.
Zwei Dinge fallen bei dem neuen Format besonders auf: Die Nähe zu der gezeigten Person ist höher als bei einer Dokumentation. Außerdem können die Menschen mit ihr interagieren – mit Abstimmungen, mit Kommentaren, oft antwortet die fiktive Sophie Scholl direkt.
Doch dieser Balanceakt aus Nähe und Geschichtsvermittlung gelingt nicht immer. Ein Beispiel ist die Aufarbeitung von Scholls Vergangenheit beim Bund Deutscher Mädel. Unter dem Instagram-Post verzeihe sich Deutschland selbst, sagt Jost. Ein User etwa schreibt: „Wo Bekenntnis ist, da ist auch Verzeihung.“ Und die fiktive Sophie Scholl antwortet: „Schön gesagt. Sich selbst zu verzeihen ist aber gar nicht so leicht …“ Kein Einzelfall vonseiten der Community-Moderation: Statt mit historischen Quellen und Erläuterungen antwortet man lieber mit Plattitüden und bedient damit unbewusst ein typisch deutsches Narrativ – und zwar die Überhöhung des Widerstands in der deutschen Bevölkerung und in der eigenen Familie. So wird auch die 20-jährige Scholl auf Instagram schnell zu einer Galionsfigur des Widerstands. Diese Zuschreibung ist kaum haltbar und wird der Vielschichtigkeit der jungen Frau kaum gerecht.
An manchen Stellen scheint Potenzial verschenkt
Doch ist damit das Projekt gescheitert? Nein, absolut nicht. Trotzdem scheint an manch einer Stelle Potenzial verschenkt zu werden. Gleichzeitig wecken solche Formate Interesse an Geschichte: „Sophie Scholl“ folgen inzwischen 900.000 Menschen, „Eva Stories“ hatte 1,2 Millionen Follower. „Wie nachhaltig sie unser Geschichtsbewusstsein schärfen und an die Schrecken des Holocaust erinnern können, darüber kann man nur spekulieren“, sagt Steffi de Jong vom Historischen Seminar der Universität Köln. Studien zur Wirksamkeit moderner Geschichtsvermittlung gebe es bislang nur wenige.
Neue Wege gehen auch Gedenkstätten und andere Bildungsinstitutionen. So erzählt die KZ-Gedenkstätte Auschwitz in den sozialen Netzwerken regelmäßig Geschichten von Opfern des Holocaust oder postet Exponate, zu denen keine Informationen vorliegen, und bittet Follower um Mithilfe bei der Rekonstruktion von deren Geschichte. Seit 2017 gibt es die Dokumentation „Inside Auschwitz“. Mittels Virtual Reality lässt sich das ehemalige Konzentrationslager online besuchen. Der virtuelle Rundgang wird von den Geschichten dreier überlebender Frauen begleitet.
Virtueller Rundgang durch KZ-Gedenkstätte
Auch die KZ-Gedenkstätte Dachau bietet unter dem Titel „Die Befreiung“ einen virtuellen Rundgang an. Es gibt aktuelle Bilder des Geländes und Originalfotos der Befreiung. Außerdem kommen Häftlinge und Befreier zu Wort. Dieser Rundgang ist ortsunabhängig abrufbar oder vor Ort auch in Form einer Augmented-Reality-App nutzbar. Besucher und Besucherinnen können mit dem Smartphone über das Außengelände gehen und sich an fünf Standorten zusätzlich historische Bilder und Erinnerungen ansehen und anhören.
Alle Plattformen nutzen
Aus Sicht von de Jong sind solche Formate für die Gedenkstättenarbeit sehr wichtig. „Wir müssen alle verfügbaren Plattformen für gute Geschichtsvermittlung nutzen und versuchen, die Menschen auf allen Kanälen zu erreichen, schon allein, um ein Gegengewicht gegen den Extremismus in der digitalen Welt zu schaffen“, sagt sie. Als Konkurrenz oder gar Ersatz zum Geschichtsunterricht oder dem Gedenkstättenbesuch sind die neuen Erinnerungsangebote allerdings nicht zu verstehen, sondern vielmehr als Ergänzung.