Tödlicher Unfall

Angehörige rätseln über Tod von Sebastian B.

Foto: Auf den Gleisen nahe der Haltestelle Karl-Wiechert-Allee fand ein Lokführer den Leichnam des 19-Jährigen. Dessen Vater und Freund versuchen, die Umstände des Todes zu klären.

Auf den Gleisen nahe der Haltestelle Karl-Wiechert-Allee fand ein Lokführer den Leichnam des 19-Jährigen. Dessen Vater und Freund versuchen, die Umstände des Todes zu klären.

Hannover. Es ist diese eine Frage, die Benjamin Kunz nicht zur Ruhe kommen lässt. Immer wieder geht er ihr nach, stellt sie sich von Neuem und sucht nach einer passenden Antwort. Doch die hat er bis heute nicht finden können. Die Frage lautet: Was geschah wirklich in den frühen Morgenstunden des 8. September mit seinem guten Freund Sebastian?

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Aus Sicht der Polizei ist die Angelegenheit eindeutig. Der 19-jährige Sebastian B. ist an jenem Tag etwa 200 Meter von der S-Bahn-Haltestelle Karl-Wiechert-Allee von einem Zug tödlich verletzt worden. B. muss sich aufrecht stehend auf den Gleisen befunden haben, die an dieser Stelle für den Regional-, den Fern- und Güterverkehr genutzt werden. Irgendwann zwischen 2 und 6 Uhr morgens, so haben es spätere Untersuchungen ergeben, erfasst ein von hinten kommender Zug den Körper des jungen Mannen an dessen rechter Seite. Rechtsmediziner der MHH stellen bei der Obduktion des Leichnams fest, dass B. bei dem Zusammenprall einen Schädel- und einen Kieferbruch davongetragen hat und vermutlich auf der Stelle tot war. Obwohl die Polizei nicht abschließend klären kann, wie der 19-Jährige auf die Gleise gelangt ist und an welcher Haltestelle er die S-Bahn überhaupt verlassen hat, schließt sie die Ermittlungen zehn Tage später ab. Der Tod von Sebastian B. ist aus Sicht der Beamten ein tragisches Unglück. Hinweise auf Fremdeinwirkung oder auf einen Suizid gibt es nicht.

Für die Angehörigen und Freunde ist es allerdings undenkbar, dass jemand wie Sebastian aus Leichtsinn oder Unachtsamkeit nachts über Bahngleise spaziert und dabei ums Leben kommt. „Das passt überhaupt nicht zu ihm“, sagt Werner B., Sebastians Vater. Im Sommer hatte der 19-Jährige am Gymnasium Lehrte sein Abitur abgelegt. Am 1. August nahm er sein duales Bachelorstudium „Allgemeine Verwaltung“ bei der Stadt Hannover auf. Er spielte Handball beim LSV Lehrte, hatte eine Freundin, zu seiner Trauerfeier kamen rund 300 Menschen. „Das Leben sollte doch erst richtig beginnen ...“, heißt es in der Todesanzeige. Die Hinterbliebenen fangen an, Nachforschungen anzustellen und stoßen dabei schnell auf Ungereimtheiten.

Sebastian B. fährt am Abend vor seinem Tod mit Freunden nach Hannover, um sich im Stadion das Fußball-Länderspiel zwischen Deutschland und den Färör-Inseln anzusehen. Die Partie wird um 20.45 Uhr angepfiffen und ist gegen 22.30 Uhr zu Ende. Deutschland siegt 3:0. Um 23.15 Uhr hebt B. an einem Geldautomaten der Sparkasse in der Bahnhofstraße 50 Euro ab. Dann suchen die jungen Männer eine Bahnhofskneipe auf, um sich die Wartezeit auf die S-Bahn zu vertreiben. Die Staatsanwaltschaft wird später in den Akten vermerken, dass Sebastian B. an diesem Abend zwar Alkohol getrunken hat, aber zu jedem Zeitpunkt Herr seiner Sinne gewesen ist. Um kurz vor Mitternacht verabschiedet sich B. von seinen Freunden. Er will die S-Bahn um 0.04 Uhr nehmen, schließlich hat er seiner Freundin ein Wochenende im Heide-Park versprochen. Zwei Kumpel versuchen, Sebastian zum Bleiben zu überreden, begleiten ihn bis auf den Bahnsteig. Doch er knickt nicht ein und sucht sich einen Sitzplatz. Die Freunde beobachten ihn vom Bahnsteig aus und entdecken in der vollen S-Bahn vier junge Männer, die sie aus Lehrte kennen. „Mit ihnen hat es in der Vergangenheit immer wieder Stress gegeben“, erinnert sich Benjamin Kunz, Sebastians Freund.

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Die Abfahrt der S-Bahn verzögert sich lediglich um ein bis zwei Minuten. Vier Minuten später erreicht der Zug den Kleefelder Bahnhof. Um 0.11 Uhr , so steht es in den Akten der Staatsanwaltschaft, ruft Sebastian aus dem Zug eine Freundin in Lehrte an. Das Gespräch ist kurz. Er verabredet sich mit ihr auf eine Zigarette vor ihrer Wohnung, die genau auf dem Heimweg des Studenten liegt. Dann, um zwölf Minuten nach Mitternacht - die Verspätung bei der Abfahrt eingerechnet - fährt der Zug in die Haltestelle Karl-Wiechert-Allee ein. Die vierköpfige Gruppe aus Lehrte verlässt die Bahn an dieser Station. Die Gründe sind unklar.

Nicht geklärt ist ebenfalls, ob Sebastian den Zug auch an der Haltestelle verlassen hat. „Er muss dort ausgestiegen sein, wie sonst sollte er auf die Gleise geraten sein“, sagt der Vater des Toten. „Aber warum verabredet er sich erst und steigt dann aus dem Zug, das ergibt doch keinen Sinn“, ergänzt Benjamin Kunz. Die vier Jugendlichen aus Lehrte sind im Zusammenhang mit Sebastian B.s Tod nie als Zeugen befragt worden. Überwachungskameras, die Aufschluss über die Ereignisse an der Haltestelle geben könnten, sind dort nicht installiert. Einen öffentlichen Zeugenaufruf der Polizei mit Bitte um Hinweise zu eventuellen Vorgängen in der S-Bahn und an der Haltestelle hat es nicht gegeben. Ist Sebastian möglicherweise im Zug mit den anderen Lehrter Jugendlichen aneinander geraten? Ist er vielleicht vor ihnen aus der S-Bahn geflohen und auf die Gleise gesprungen?

Sebastian B. kommt in dieser Nacht nicht in Lehrte an. Um 0.30 Uhr versucht er vergeblich, einen Bekannten auf dem Handy anzurufen. Dann beginnt die Funkstille. Es ist 6.12 Uhr als der Zugführer des IC 2436 der Notfallleitstelle einen Gegenstand im Gleis in Höhe von Bahnkilometer 4,4 meldet. Die Leitstelle weist den nachfolgenden ICE mit der Nummer 841 an, die Strecke „auf Sicht“ abzufahren. Um 6.25 Uhr bringt der Fahrer den mit rund 100 Reisenden besetzten Zug kurz vor der Haltestelle Karl-Wiechert-Allee zum Stehen. Er hat den toten Sebastian entdeckt. Die Bundespolizei lässt die Strecke sperren und informiert den Kriminaldauerdienst. Er übernimmt die Ermittlungen. Welcher Zug dem Studenten die tödlichen Verletzungen beigebracht hat, ist bis heute ungeklärt. Im fraglichen Zeitraum haben 20 Züge die Strecken passiert. Genauer untersucht werden allerdings nur drei Regionalzüge.

Bisher haben die Recherchen der Angehörigen nicht zur Aufklärung beigetragen. Im Gegenteil. Sie haben neue Fragen aufgeworfen. Immerhin sind es so viele, dass die Staatsanwaltschaft die Akten neu bewerten will. Das Ergebnis steht aus.

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