Kinderkrankenhaus Auf der Bult

Das erleben Kinderärzte in der Notfallsprechstunde

Kinderkrankenhaus Auf der Bult: Der Misburger Kinderarzt Dr. Thomas Buck bei seiner Arbeit im Notdienst. 

Kinderkrankenhaus Auf der Bult: Der Misburger Kinderarzt Dr. Thomas Buck bei seiner Arbeit im Notdienst.

Hannover. Bereits kurz nach 19 Uhr bilden die Kinderkarren vor dem orangefarbenen Anmeldetresen eine lange Schlange. Es ist Dienstag, seit einer knappen Stunde erst haben die Praxen der niedergelassenen Kinderärzte geschlossen. Seit 19 Uhr ist das Wartezimmer der Notfallsprechstunde der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Kinderkrankenhaus auf der Bult rappelvoll. Babys schreien, Kleinkinder jammern, Eltern schimpfen. Geduld ist nicht die erste Tugend besorgter Mütter und Väter.

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„Oft ist das hier ein undankbarer Job“, sagt Thomas Buck, Obmann der hannoverschen Kinderärzte, der an diesem Abend Notfalldienst schiebt. Seine kleinen Patienten und deren Eltern lässt er das nicht spüren. Geduldig und liebevoll nimmt er sich jedem Kind an, beruhigt Väter, tröstet Mütter. „Rund 90 Prozent der Kinder gehören hier allerdings nicht her“, betont der Kinderarzt. Schließlich seien die KV-Praxisräume auf der Bult Anlaufstelle für Notfälle. „Und als Notfall bezeichne ich Patienten, die weiter in der Klinik versorgt werden müssen.“

Darüber hinaus macht den wechselnden diensthabenden Ärzten noch ein anderes Problem zu schaffen: das Verhalten vieler Eltern. „Gerade an den Wochenenden geht das hier zuweilen sehr aggressiv zu“, sagt Buck. Die medizinische Fachangestellte Amira Musanovic macht den Job seit etlichen Jahren und beobachtet ebenfalls, dass sich einiges verschlechtert hat. „Wir werden beschimpft, beleidigt und persönlich angegangen.“ In gewisser Hinsicht könne sie die Eltern verstehen. „Die schieben Panik, wenn ein Kind 39 Grad Fieber hat. Für uns ist das nicht weiter schlimm.“ Aber sie und ihre Kollegen würden zunehmend weniger verstanden von den Eltern der Patienten. „Das hat weniger etwas mit Sprachschwierigkeiten zu tun. Das Kind soll vielmehr sofort behandelt und am besten sofort wieder gesund werden.“ Wenn es zu Wartezeiten komme, sei schnell die Geduld zu Ende. „Und es kommen ja nicht nur die Eltern, sondern manchmal ganze Großfamilien mit in die Notfallambulanz“, sagt Musanovic.

 „Mit dem Abend kommt die Angst“

Bei der Anmeldung geht es jetzt Schlag auf Schlag. „Mein Sohn fasst sich seit 18 Uhr an die Ohren“, erzählt eine aufgebrachte Mutter. Ein Baby hat seit einigen Stunden Brechdurchfälle. Ein Mädchen soll sofort untersucht werden – es hat seit einer Stunde 37,7 Grad Fieber, wie die verzweifelte Mutter berichtet. „Mit dem Abend kommt die Angst", sagt eine andere. Sie habe das Gefühl bekommen, die Nacht mit dem Fieber des zweijährigen Sohnes nicht zu überstehen. Eine weitere Mutter hat gewartet, bis ihr Mann von der Arbeit gekommen ist, bevor beide mit der Vierjährigen wegen Bauchschmerzen in die Notfallambulanz gefahren sind. Wäre ein nachmittäglicher Arztbesuch keine Alternative gewesen? „Wieso? Die sind doch da hier.“

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„Mein Kind ist ein Notfall.“ Mit diesen Worten stürmt ein junger Vater ins Wartezimmer. Ohne Kind. Das komme gleich, es habe Verbrennungen. „Kein Fall für uns“, entscheidet Musanovic. Das Mädchen solle direkt in der Kinderklinik angemeldet werden. Der Vater sieht das nicht ein. Sofort, fordert er, müsse sich ein Arzt den Arm seiner Tochter anschauen, die mittlerweile auch eingetroffen ist. Die Mitarbeiterinnen am Tresen bleiben ruhig und höflich, laut pöbelnd zieht die Familie schließlich Richtung Klinikaufnahme von dannen.

„Bei vielen Kindern, die husten, Fieber oder auch mal Durchfall haben, würde es reichen, am nächsten Morgen in die Sprechstunde des Kinderarztes zu gehen“, sagt Buck. Zumal dieser seine Patienten auch besser kenne. Es sei nicht einfach, aus den vielen Bagatellfällen einen dringenden herauszufischen und dann auch schnell zu behandeln. „Wenn da im Wartezimmer die vermeintliche Reihenfolge durcheinander kommt, gibt es auch richtig Ärger“, hat Buck erfahren.

Die Erwachsenen stehen unter Stress

Musanovic ahnt, woran das liegt. „Das Problem sind eigentlich nie die kranken Kinder, sondern immer die überforderten Eltern“, sagt sie. Vor einigen Jahren noch seien weniger Bagatellfälle in der Notaufnahme gelandet. „Da gab es ein paar nützliche Ratschläge zum Fiebersenken von der Oma, und oft war am nächsten Morgen schon wieder alles besser.“ Heute stünden die Erwachsenen unter Stress, sie müssten arbeiten, der Nachwuchs müsse in die Kita – da passten zwei Tage Fieber nicht in den Alltag.

Mittlerweile wartet mehr als ein Dutzend kleiner Patienten auf eine Behandlung. „Gibt es hier nur einen Arzt?“, empört sich eine Mutter, deren Sohn seit drei Tagen stark hustet. Sie wird nicht vorgezogen.

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Keinen einzigen echten Notfall liefert der Bereitschaftsdienst an diesem Abend. Buck kümmert sich um den kleinen Emil, der fröhlich das Behandlungszimmer auseinandernimmt, während seine Mutter Irma Tuhoran von Fieber und ihrer Angst vor Krampfanfällen spricht. Henry-Julius und sein Vater Martin Müller gehören zu den gelassenen Vertretern im Wartezimmer. Der Kleine ist beim Baden kurz unter Wasser geraten, nun sollen Schäden an der Lunge ausgeschlossen werden. Buck beruhigt den Vater. Allerdings solle er noch 24 Stunden beobachten, ob der Sohn Fieber oder Husten bekomme und gegebenenfalls zum Kinderarzt gehen. Der elfjährige Toni hat schreckliche Halsschmerzen. Mutter Sabine Heide macht sich Sorgen: „Er ist starker Allergiker, wir sind extra aus Letter zur Bult gefahren.“ Auch in diesem Fall findet Buck die richtigen Beruhigungsworte und ein Rachenspray gegen die Beschwerden.

60 Kinder in drei Stunden

Die Schlange vorm Tresen wächst weiter. Fieber, Husten Heiserkeit, mehr nicht. „Wir können die Bedrohlichkeit von Symptomen einschätzen. Aber die Eltern trauen uns das oft nicht zu“, sagt Musanovic. „Es werden wirklich viele Bagatellfälle im Notdienst vorstellig“, sagt auch Kai-Peter Schubert, diensthabender Kinderarzt der Klinik auf der Bult, der an diesem Abend für die Fälle zuständig ist, die stationär aufgenommen werden. Eltern bräuchten in erster Linie Aufklärung und Beratung, dann würde sich mancher Besuch im Bereitschaftsdienst erübrigen.

Nicht selten sehen Buck und seine Kollegen in drei Stunden rund 60 Kinder. „Das ist Sprechstunde im Schweinsgalopp – gepaart mit einem nicht unerheblichen Aggressionspotenzial der Eltern“, sagt der Arzt. Manchmal reicht ihm schon ein kurzer Blick auf die Patienten. „Wenn sie essen, trinken und spielen, sagt einem doch der gesunde Menschenverstand, dass nicht alles im Argen liegen kann.“ Doch: „Die Familien wollen eine Diagnose zu jeder Tageszeit“, sagt Klinikarzt Schubert.

Kurz vor 22 Uhr ist das Wartezimmer noch immer gut bestückt. Offiziell endet der Bereitschaftsdienst in wenigen Minuten. Musanovic und Buck werden den Tageswechsel wohl noch in den Behandlungsräumen erleben – nachdem die Patienten versorgt sind, kommt die Dokumentation. Viele Familien sind beruhigt nach Hause gegangen. Musanovic und Buck hoffen, dass die Eltern die Erfahrung mitnehmen, beim nächsten Mal ihr Kind etwas genauer zu beobachten, bevor sie sich auf den Weg zur Bult machen.

Bei der Reihenfolge geht es nach Dringlichkeit

Seit knapp einem Jahr gelten neue Regeln in den Notfallambulanzen der deutschen Kliniken. Der zuständige Bewertungsausschuss will damit die Notaufnahmen von Patienten mit sogenannten Bagatellerkrankungen entlasten. Denn Notaufnahmen sind nur für Erwachsene oder Kinder mit gravierenden Erkrankungen da. Kliniken sind deshalb verpflichtet, Patienten mit leichten Erkrankungen und Verletzungen an niedergelassene Ärzte oder deren Bereitschaftsdienst zu verweisen. Echte Notfall-Patienten können dann schneller behandelt werden, weil den Ärzten mehr Zeit für diejenigen bleibt, die dringend und akut versorgt werden müssen. 

Das gilt, zumindest theoretisch, auch für die Notfallsprechstunde der niedergelassenen Kinderärzte in den Räumen des Kinder- und Jugendkrankenhauses auf der Bult. Freiwillig haben die Mediziner die Sprechzeiten wochentags um eine Stunde verlängert. Ein Arzt ist montags, dienstags und donnerstags zwischen 19 und 22 Uhr für die kleinen Patienten da, mittwochs und freitags beginnt der Bereitschaftsdienst bereits um 16 Uhr. An Wochenenden und Feiertagen ist die Notfallambulanz zwischen 9 und 22 Uhr erreichbar. Bei der Reihenfolge der Behandlung nimmt das Fachpersonal eine Einschätzung nach Dringlichkeit vor, die in die Kategorien „sofort, sehr dringend, dringend, normal bis nicht dringend“ eingestuft wird.

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Von Susanna Bauch

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