Das große Wunschkonzert an den Kliniken
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Heiko Heiko Randermann
© Quelle: Jan Philipp Eberstein
Hannover. Es gab keinen Protest, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Sommer neue und höhere Mindestbesetzungen für pflegeintensive Stationen festlegte. Warum auch? Dass die Qualität der Pflege maßgeblich von der Zahl der Pflegekräfte abhängt und dass gerade in diesen Stationen keine Abstriche gemacht werden dürfen, ist unbestritten. Welche Schwierigkeiten in dieser Regelung liegen, zeigt sich erst jetzt, Monate später, nachdem die Verordnung die theoretische Ebene verlassen hat und auf dem harten Boden der praktischen Umsetzung angekommen ist. Denn da erweist sich, dass der Wunsch nach mehr Qualität auch zu erheblichen Rückschritten führen kann: Hannoversche Kliniken, die nicht in der Lage sind, die neuen Standards zu jeder Zeit zu erfüllen, könnten dann häufiger als bislang gezwungen sein, Stationen zeitweise zu schließen.
Darunter leiden müssen vor allem die Patienten, auch wenn wohl niemand Gefahr läuft, dass seine Behandlung ganz ausfällt. Aber eine Verlegung in eine andere Klinik, womöglich gar in einer anderen Stadt, kann für den Kranken eine erhebliche Belastung darstellen. Der Bundesgesundheitsminister hätte in diesem Fall eine Verbesserung verordnet und eine Verschlechterung erzeugt.
Es ist ein Dilemma, das es in Sonntagsreden niemals gibt, aber an jedem Werktag bittere Realität ist: Wünschenswerte Qualität und Quantität können sich gegenseitig ausschließen, wenn die Ressourcen knapp sind. Und das gilt insbesondere, wenn Fachkräfte fehlen, die man schließlich nicht einfach nach Bedarf produzieren und einkaufen kann – also in immer mehr und immer wichtigeren Bereichen. Wir haben das in den vergangenen Jahren bereits erlebt beim Ausbau der frühkindlichen Erziehung und den Ganztagsschulen. Natürlich gibt es gute Argumente dafür, eine dritte Erzieherstelle in jeder Kita-Gruppe zu fordern oder sich dafür starkzumachen, dass in Ganztagsschulen auch das Nachmittagsprogramm von Lehrern gestaltet und mithin zu Unterrichtszeit wird. Doch es stellte sich schnell heraus, dass damit der Ausbau von Plätzen in Kitas oder Ganztagsschulen auch erheblich gebremst werden kann.
Es gibt ihn in der Praxis, den harten Gegensatz von Masse und Klasse. Und der erste Schritt im Umgang mit diesem Dilemma wäre, sich auch in der Debatte einzugestehen, dass es existiert. Der zweite Schritt wäre aber, nicht die eine Seite für unbedeutender zu erklären: Allein auf die Qualität zu achten funktioniert nicht, wie die Beispiele der Krankenstationen zeigen. Allein auf Masse zu setzen, ohne an einer Verbesserung der Qualität zu arbeiten, wird aber auch nicht funktionieren.
Die Lösung dürfte wohl eher darin liegen, den Entscheidern in der Praxis – und das sind in den genannten Beispielen häufig die Kommunen – mehr Flexibilität zu geben. Die Qualitätsstandards müssen regelmäßig erhöht werden, aber es muss Möglichkeiten geben, übergangsweise mit alten Standards weiterzumachen, um Schließungen von Stationen zu vermeiden. Und es muss auf allen Ebenen noch stärker die Wurzel des Problems angegangen werden: der Mangel an Pflegekräften. Dass der immer drängender werdende Fachkräftemangel, der viele Bereiche unserer Wirtschaft und Gesellschaft beeinträchtigt, deutlicher zutage tritt – auch dazu kann ein ehrlicher Umgang mit dem Dilemma von Masse und Klasse führen.
Von Heiko Randermann