Ein Spaziergang durch einen Stadtteil, der besser ist als sein Ruf
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Hannover - Stadtführung durch den Mühlenberg, Heike Albrecht zeigt und erklärt. - Foto Tim Schaarschmidt
© Quelle: Tim Schaarschmidt
Hannover. Torsten Kreuth (53) lebt schon seit mehr als 20 Jahren in Hannover und kennt sich eigentlich gut aus in der Stadt. Aber dort, wo er an diesem sonnigen frühen Nachmittag steht, hat er nach eigenem Bekunden noch nie gestanden. Zusammen mit seiner Frau Susanne Reymann (53) ist er aus der Südstadt zum Mühlenberger geradelt. Jetzt sind beide am Anna-Blume-Brunnen aus dem Mühlenberger Markt und lassen sich von Heike Albrecht diesen Stadtteil zeigen, der so ganz anders sein kann als sein Ruf. Viel grüner, idyllischer, friedlicher.
Stattreisen bietet regelmäßig Führungen durch Hannovers Stadtteile an, gerade auch um Einheimischen bislang unbekannte Ecken ein bisschen näher zu bringen, wie Reiseführerin Albrecht sagt. Im Programm sind nicht nur Spaziergänge durch Vorzeigeviertel wie Linden, Südstadt und List, sondern auch durch den Sahlkamp oder Hainholz. Edith, die ihren Nachnamen nicht nennen will, ist sogar ganz aus Neustadt am Rübenberge angereist, um den Mühlenberg zu erkunden. „Mich hat die Neugier hierher getrieben“, sagt die weißhaarige Dame, „ich begegne diesem Stadtteil ganz vorurteilsfrei.“ Seitdem sie im Ruhestand sei, mache sie öfters Stadtführungen, erzählt sie noch.
Reihenhäuser und Hochhäuser
Erika Wiepking aus der List will gucken, „wie der Mühlenberg wirklich ist“. Gelesen hat sie eigenes von dem vermeintlichen Hochhaus-Ghetto am Canarisweg, jetzt macht sie sich selbst ein Bild.Und da sind eben nicht nur die dicht bebauten sanierungsbedürftigen Mehrfamilienhäuser am Ossietzkyring aus den siebziger Jahren, da sind auch die Reihenhäuser am Leuschnerweg aus den sechziger Jahren, das rot geklinkerte Einkaufsmeile aus den achtziger Jahren und die hochmoderne neu gebaute Integrierte Gesamtschule mit Stadtteilzentrum gleich gegenüber vom Anna-Blume-Brunnen.
Viele Junge, viele Alte und viele Arbeitslose
Zum Einstieg gibt Albrecht einen Einblick in die Entstehungsgeschichte. 1966 war der erste Spatenstich für diesen Stadtteil, der im Winkel zwischen den Bundesstraßen 65 und 217 geplant wurde. Ursprünglich für 20.000 Menschen, jetzt leben 7000 hier. Etwa ein Fünftel der Einwohner ist unter 18 Jahre alt, ein Viertel über 60, die Hälfte hat ausländische Wurzeln, die Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl bekam die AfD bei den Zweitstimmen einen Anteil von 26 Prozent –so viel wie sonst nirgends in Hannover.
Eine Bronzetafel erinnert an die finstere Vergangenheit, daran, dass hier einmal ein Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme war. Auch Zwangsarbeiter, die für Hanomag schuften mussten, waren dort untergebracht.
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Stadtteil zwischen zwei Bundesstraßen: Der Mühlenberg entstand in den sechziger Jahren.
© Quelle: Tim Schaarschmidt
Nachbaridyll zwischen Betonwänden
Albrecht führt die Reisegruppe unter einer Betonunterführung zum Ossietzkyring. „Eigentlich sollten diese Häuser 23 Stockwerke hoch werden, Gottseidank, sind es nur acht bis zehn Geschosse geworden.“ Auf vielen Balkons sind Satellitenantennen montiert, auf einem Balkon schüttelt eine Frau eine Badematte aus, vier kleine Jungen spielen Fußball. Das Städtebau-Ziel sei in den siebziger Jahren „Urbanität durch Dichte“ gewesen, erläutert die Reiseführerin. Die Wohnungen seien dringend sanierungsbedürftig, rund 50.000 Euro koste dies jeweils – „eine Riesensumme insgesamt“.
Am Ende des Spaziergangs waren die Teilnehmer der Führung laut Heike Albrecht so angetan, dass einige nicht nach Hause fuhren, sondern selbst noch auf eigene Faust durch den Mühlenberg bummelten. Susanne Reymann hat die wenig genutzten Grünflchen, den hohen Sanierungsbedarf gerade der Wohnsiedlungen, die enge Bebauung gesehen, „aber auch viele andere Ecken, die dem schlechten Ruf der Stadt gar nicht entsprechen“. Besonders beeindruckt habe sie, wie freundlich die Gruppe bei ihrem Rundgang immer wieder gegrüßt worden sei.
Von Saskia Döhner