Klavierlehrer entwickelt Noten für Blinde
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/IBRL5T27DU26PA4YLGHTK6MIEI.jpg)
Hat eine Kommunikationslücke geschlossen: Martin H. Rembeck.
© Quelle: Alexander Körner
Hannover. Die Inklusion stellt Lehrer und Schüler vor völlig neue Herausforderungen. Zwar werden behinderte Kinder vom kommenden Jahr an an jeder Regelschule aufgenommen, doch sicher nicht jeder Musiklehrer wird bis dahin die Blindenschrift Braille beherrschen, um etwa sehbehinderten Schülern das Klavierspielen beizubringen. Der hannoversche Musiklehrer und Klavierstimmer Martin H. Rembeck hat hier Pionierarbeit geleistet und ein neuartiges System geschaffen, das es ermöglicht, dass Lehrer, egal ob blind oder sehend, blinden und sehbehinderten Schülern Klavierunterricht erteilen können.
„Klavier lernen Punkt für Punkt“ heißt die neue Klavierschule, an der Rembeck - mit Unterbrechungen - zehn Jahre lang gearbeitet hat. Der 54-Jährige, selbst blind von Geburt an, der unter anderem als Klavierdozent an der Musikschule Soest und als Privatlehrer in Hannover arbeitet, hat gewissermaßen ein barrierefreies System entwickelt, das die Kommunikationslücke zwischen der konventionellen Notenschrift und der Braille-Notenschrift schließt. Das neuartige Lehrbuch, das sich an Kinder wie Erwachsene, Anfänger und Fortgeschrittene richtet, gibt es in zwei Ausgaben: einer zweibändigen, ausschließlich in Braille-Notenschrift verfassten für blinde und sehbehinderte Schüler, und einer einbändigen, 251-seitigen Schwarzschriftausgabe, in der die Braille-Noten unmittelbar unterhalb der sogenannten Schwarzdrucknoten stehen. Diese direkte Gegenüberstellung bildet die Brücke zwischen Blinden und Sehenden. Das heißt, beide, Lehrer wie Schüler, arbeiten mit dem gleichen Unterrichtsmaterial, wenn auch zum Teil mit verschiedenen Schriftzeichen. Dieses Verfahren ermöglicht es Klavierlehrern selbst ohne Kenntnisse der Braille-Notenschrift, Blinde zu unterrichten - vorausgesetzt, die Schüler beherrschen die punktförmige Brailleschrift. Die für sie gedachte Ausgabe ist deshalb doppelt so dick, weil die Braille-Notenschrift, ein international anerkanntes System, schlichtweg mehr Platz benötigt als ihr konventionelles Gegenstück. Sie enthält nicht nur die Noten, sondern ebenfalls alle anderen Informationen wie Takte, Oktaven oder Intervalle, nur dass diese hintereinander anstatt übereinander geschrieben werden, erläutert Rembeck. Der kreative Kopf ist als gefragter Klavierstimmer häufig in der gesamten Bundesrepublik unterwegs, außerdem gibt er Vorträge und Seminare über Musik, Musikgeschichte und außermusikalische Disziplinen wie Architektur und Philosophie, etwa im Bildungsverein.
„Blinde untereinander haben keine Verständigungsschwierigkeiten“, sagt Rembeck, denn mit der Braille-Notenschrift lasse sich jedes Musikwerk, analog zum konventionellen Notensystem, bis ins Detail beschreiben. Ihr Erfinder Louis Braille (1809-1856) hatte sie 1830, fünf Jahre nach der Buchstabenschrift entwickelt. Beide Schriften basieren auf einem Sechspunktesystem (Würfelsechs). Rembeck fände es zwar hilfreich, wenn Klavierlehrer, die sehbehinderte Schüler unterrichten, die Blindenschrift beherrschten, zwingend notwendig sei es aber nicht (mehr). Schon aus integrativen Gründen bedeutet seine neu entwickelte Klavierschule einen Riesenfortschritt gegenüber der bisherigen Lehrmethode, wenn Sehende Blinden das Klavierspielen beibringen: Sie lernen üblicherweise durch Nachspielen und Auswendiglernen; die Stücke werden vorher auf Kassetten oder MP3-Player aufgenommen. „Das ist ein großer Nachteil für die Blinden, weil sie den formalen Aufbau eines Musikstücks dabei nicht erlernen können“, sagt der gebürtige Westfale.
Das Unterrichtsmaterial ist systematisch aufgebaut und nach zunehmenden Schwierigkeitsgraden aufgebaut. Es besteht aus Lese- und Rhythmusübungen, Arrangements internationaler Lieder sowie rund 80 Stücken aus sämtlichen Epochen der Klavierliteratur - vom 18. bis 20. Jahrhundert. Weitere 240 Stücke hat Rembeck selbst geschrieben. „Diese Methode vermittelt nicht nur das systematische Erlernen der Braille-Notenschrift, sondern auch tiefe Kenntnisse der allgemeinen Musiklehre“, sagt Rembeck nicht ohne Stolz. Das Projekt „Klavier lernen Punkt für Punkt“ ist von der Aktion Mensch, der Klosterkammer Hannover und dem Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen unterstützt worden. Am 13. November wird es um 19 Uhr in der Musikhochschule Hannover der Öffentlichkeit präsentiert.
Martin H. Rembeck: „Klavier lernen Punkt für Punkt. Für Sehende und Blinde“ ist erschienen in der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte und kostet pro Ausgabe 50 Euro.