Hannovers katholische Hauptkirche

Masterplan hinter der Architektur von St. Clemens entdeckt

Ein Abbild der kosmischen Schöpfung: Lajos Rovatkay und Elke Krüger-Hespe haben die Basilika St. Clemens untersucht – und Erstaunliches herausgefunden.

Ein Abbild der kosmischen Schöpfung: Lajos Rovatkay und Elke Krüger-Hespe haben die Basilika St. Clemens untersucht – und Erstaunliches herausgefunden.

Hannover. Der Himmel ist verhangen an diesem Tag, doch das tut der Majestät des barocken Bauwerks keinen Abbruch. Drei Jahrhunderte blicken von dieser Kirche herab. Elke Krüger-Hespe lässt ihren Blick an der Fassade empor schweifen, wie viele andere auch. Doch wenn Sie die Basilika St. Clemens anschaut, sieht sie nicht nur Steine und Mauerwerk. „Das ist auch eine Art Abbild der Weltordnung“, sagt die Architektin respektvoll.

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Elke Krüger-Hespe, langjährige Dozentin an der Leibniz-Universität, hat den Grundriss und die Frontfassade von Hannovers katholischer Hauptkirche akribisch untersucht. Sie hat jene Aufmaßzeichnungen analysiert, die Architekten nach dem Krieg von der Ruine machten, und sie hat das gut 300 Jahre alte Holzmodell aus der Bauzeit der Kirche unter die Lupe genommen, das derzeit im Historischen Museum in der Ausstellung „Katholisch in Hannover“ zu sehen ist. Mit verblüffenden Ergebnissen: „Die gesamte Struktur des Kirchbaus wird von harmonikalen Proportionen bestimmt“, sagt sie. Ein verborgener Masterplan.

Stein gewordene Musik

Wer das Geheimnis der Basilika verstehen will, muss die Grundbausteine der Musik kennen: Jeder Ton hat eine bestimmte Schwingung. Zwei Töne bilden ein sogenanntes Intervall. Ihre Schwingungen stehen dabei in einem bestimmten Zahlverhältnis zueinander; bei einer Quinte beispielsweise ergibt sich ein Frequenzverhältnis von 3:2. Elke Krüger-Hespe zeigt auf die Eingangstür: „Diese ist drei Meter breit und fünf Meter hoch – das sind exakt die Proportionen der Großen Sexte“, sagt sie.

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Solche Intervalle prägen die gesamte Struktur des Gotteshauses. Es wimmelt nur so von Oktaven, Quinten und Quarten. Die Fassadenfront im Osten beispielsweise ist genau 12 Meter breit. Die Höhe vom Treppenabsatz bis unterhalb der Balustrade liegt bei 20 Meter – erneut eine Große Sexte. Die Höhe vom Fuß der Treppenstufen bis zur Spitze des dreieckigen Tympanons liegt bei 18 Meter – das Verhältnis zur 12 Meter breiten Front entspricht genau einer Quinte. Und die Oberkante des Schlusssteins über dem Türbogen liegt genau 9 Meter über der Unterkante der Treppe. Bezogen auf die 12 Meter lange Fassadenfront ergibt sich das Frequenzverhältnis einer Quarte.

Clemenskirche in Hannover
Clemenskirche in Hannover

Genau 300 Jahre nach ihrem Bau haben Forscher den verborgenen Masterplan hinter der Clemenskirche in Hannover entdeckt.

Geheimes Strickmuster

„Ich war völlig von den Socken, als ich das entdeckte“, sagt Krüger-Hespe. Dutzende solcher Intervallproportionen hat sie inzwischen aufgespürt. „Es sind so viele, dass von Zufall keine Rede mehr sein kann“, sagt sie. „Dahinter steckt zweifellos ein Plan.“ Offenbar hatte der Bauherr der Kirche, Agostino Steffani, vor 300 Jahren ein geheimes Strickmuster im Kopf. Dass dieses jetzt wiederentdeckt wurde, ist dem Musikprofessor Lajos Rovatkay zu verdanken. Der ausgewiesene Steffani-Experte brachte die Architektin erst auf die Spur der steinernen Quarten und Quinten.

„Steffani war tief überzeugt, dass alles im Kosmos zusammen hängt“, sagt Rovatkay. Der Bauherr, selbst Bischof und Komponist, war eine schillernde Gestalt. In einem Traktat hatte er 1694 dargelegt, dass die musikalischen Intervalle den Zahlenverhältnissen der ganzen Weltordnung entsprechen. Das Thema war bei Gelehrten seinerzeit en vogue; sie spürten damals überall Proportionen nach, die vom menschlichen Körper bis zu den Planetenbahnen und eben den Musikharmonien die ganze Schöpfung durchziehen sollten. In der Musik und ihren Intervallen sahen sie eine Art Abbild der kosmischen Weltharmonie. Eine Art Goldenen Schnitt für die Ohren. Das Feng Shui des Abendlandes.

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Vorbild in Venedig

„Seine Kirche errichtete Steffani ganz nach den Proportionsprinzipien der harmonikalen Architektur“, sagt Rovatkay. Der Bauherr ließ seinen Architekten Tommaso Giusti die venezianischen Kirchenbauten des berühmten Baumeisters Andrea Palladio zum Vorbild nehmen, besonders die berühmte Kirche Il Redentore. Palladio war ein Pionier darin, musikalische Proportionen in der Architektur abzubilden. Bei der Frontfassade der Basilika sind die Außenkanten der Pilaster 21 Meter voneinander entfernt. Auch die Entfernung von der untersten Treppenstufe bis zur Unterkante der Balustrade beträgt genau 21 Meter – ein Quadrat, oder, musikalisch gesprochen, eine Prim. Auch bei der Kirche Il Redentore dominiert ein Quadrat die Fassadenfront.

Doch nicht nur bei der Fassade, auch beim Grundriss war Steffani äußerst penibel: „Er bestand darauf, dass sein Entwurf ganz genau umgesetzt wurde – das ist überliefert“, sagt Rovatkay. „Für den Grundriss hat er ein Griechisches Kreuz so verlängert, dass es harmonikalen Proportionen entsprach.“ Der Durchmesser der Kuppel entspricht mit 12 Metern exakt der Breite des Ostportals. Die Seitenschiffe sind jeweils fünf Meter tief. Zum Kuppelradius von sechs Metern stehen sie exakt im Frequenzverhältnis einer Kleinen Terz.

Für Rovatkay ist die Basilika jedoch nicht nur ein Stück Stein gewordene Musik. Steffani sei es um mehr gegangen als nur um Zahlenspielereien. „Seine Kirche sollte Gott loben, der den Kosmos erschaffen hat“, erklärt der Musikprofessor. Ein Fenster zu den Gestaltungsprinzipien des Universum sollte St. Clemens sein, sagt Rovatkay ehrfürchtig. Er lässt den Blick zur Kuppel schweifen: „Diese Kirche ist in Hannover ein einzigartiges Symbol für das spirituelle Erbe des Abendlands.“

Festwoche zu Agostino Steffani

Um Agostino Steffani, den Baumeister der Clemenskirche, geht es auch bei der dritten Festwoche, die das Forum Agostino Steffani unter dem Motto „Grenzüberschreitungen“ organisiert hat. Zum Auftakt gibt der Knabenchor am 2. Juni, 19.30 Uhr, in der Clemenskirche ein Festkonzert zum 300-jährigen Bestehen der Basilika, bei dem unter anderem Musik von Steffani erklingt. 

Am 5. Juni gibt es um 18 Uhr in der Neustädter Kirche Musik und ein Tischgespräch mit Experten zum Thema  „Bonifazio Graziani und die Melodisierung der Tonsprache um 1650“. Am 8. Juni steht dort um 18 Uhr ein Kammerkonzert mit Stücken Steffanis auf dem Programm. Ein Stadtspaziergang auf Steffanis Spuren, geführt von Bernward Kalbhenn und Claudia Kaufold, beginnt am 9. Juni um 15 Uhr am Neuen Rathaus.

Das Abschlusskonzert mit dem Collegium Vocale Hannover beginnt am 10. Juni um 18 Uhr in der Neustädter Kirche. Dabei erklingt „Musik der römischen Basiliken in der Kapelle des Leineschlosses“ von Bonifazio Graziani aus dem 17. Jahrhundert. Um 17 Uhr beginnt eine Konzerteinführung von Florian Lohmann und Lajos Rovatkay.

Von Simon Benne

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