Ministerin diskutiert über Bürokratie in Kliniken
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Wo bleibt der Patient? Hans-Jürgen Welkoborsky (von links), Barbara Schulte, Carola Reimann, Erika Jaeger und Jörg Niemann auf dem HAZ-Podium.
© Quelle: Schaarschmidt
Hannover. Eigentlich sollte sich ein Arzt vor allem um seine Patienten kümmern. Doch die Mediziner müssen zunehmend Zeit investieren, um das, was sie tun, zu dokumentieren. Chefärzte sind schon mal fünf Stunden am Tag damit beschäftigt, ihre Diagnosen und Behandlungen in Listen, Tabellen und Formblättern festzuhalten – sonst wird die Leistung nicht honoriert. Aber auch Pfleger und viele andere Klinikmitarbeiter sind dazu verpflichtet. „Etwa 30 Prozent der ärztlichen Arbeitszeit fließt in diesen Dokumentationswahn“, sagt Prof. Hans-Jürgen Welkoborsky. Damit gab der HNO-Chefarzt am Klinikum Nordstadt gleich eine Antwort auf die Frage, die dem HAZ-Forum am Donnerstagabend als Motto vorangestellt war: „Warum hat mein Arzt immer weniger Zeit für mich?“
Die Bürokratie im Klinikalltag ist zu einem Problem geworden – in diesem Punkt waren sich die Vertreter der Krankenhäuser bei der Podiumsdiskussion einig, an der auch Niedersachsens Sozial- und Gesundheitsministerin Carola Reimann teilnahm. Allein in den zehn Häusern des Klinikums Region Hannover (KRH) seien 466 Vollzeitkräfte nur mit der Dokumentation beschäftigten, berichtete Barbara Schulte, Geschäftsführerin für Finanzen und Infrastruktur. Nötig wird das im Wesentlichen durch die 2003 eingeführten Fallpauschalen – das bedeutet, dass alle Kliniken von den Kassen den gleichen Betrag für vergleichbare Leistungen erhalten, unabhängig davon, wie lange der Patient betreut wird.
Mittlerweile müssten rund 120 000 Codes für die unterschiedlichen Behandlungen berücksichtigt werden, kritisierte Schulte. Zudem verlange der Medizinische Dienst der Kassen 22 000 Akten pro Jahr zur Abrechnungsprüfung. „Die Stunden fehlen unseren Mitarbeitern für die Patienten. Auch das ist ein Grund für den Fachkräftemangel – und das kann in dieser Dimension nicht mehr so weitergehen“, stellte Schulte klar. Sie weiß gut, wovon sie spricht: Mehrere Jahre arbeitete sie als Krankenschwester auf einer Intensivstation, bevor sie Betriebswirtschaft studierte und ins Klinikmanagement einstieg.
Wie der Klinikalltag aussehen kann, beschrieb HAZ-Redakteurin und Moderatorin Jutta Rinas anhand der Schilderung einer Betriebsratsvorsitzenden des KRH: Auf einer Station sind für 34 Patienten zwei Kräfte eingeteilt, von denen nur eine examiniert ist, sieben der Kranken sind desorientiert, zwei extrem verwirrt und elf müssten beatmet werden. „Es gibt immer wieder Grenzsituationen“, sagte Erika Jaeger, Pflegedirektorin am Klinikum Siloah. Das könne notfalls auch dazu führen, dass Betten vorübergehend abgemeldet würden, wenn nicht genug Personal verfügbar sei. Aus dem Publikum meldete sich eine Krankenschwester, die als Nachtwache für 36 Patienten allein zuständig ist. „Ich schaffe das körperlich nicht mehr, und auch viele Kollegen sind an ihrer Grenze angelangt“, klagte sie.
Ministerin Reimann sieht die Kliniken vor weiteren Herausforderungen. „Es wird immer mehr ältere Patienten mit komplexeren Erkrankungen geben, die eine immer intensivere Pflege benötigen“, sagte die SPD-Politikerin. „Gerade aber die Pflege geht im Fallpauschalensystem unter“, kritisierte sie. Reimann plädierte für neue Personalschlüssel mit einer Mindestzahl an Pflegekräften, deren Leistung angemessen vergütet werden müsse. Dies aber ist ein Thema, das die Landesministerin nicht lösen kann – es muss auf Bundesebene verhandelt werden.
Einen nicht ganz leichten Stand hatte Jörg Niemann, Leiter des Verbandes der Ersatzkassen in Niedersachsen (VdEK). Er verteidigte die Pauschalen: „Früher haben die Kliniken am meisten Geld bekommen, die die Patienten am längsten behalten haben.“ Auch müssten die Krankenhäuser überprüft werden, weil 60 Prozent der Abrechnungen fehlerhaft seien. „Wir sind keine Betrüger“, empörte sich KRH-Geschäftsführerin Schulte. Aber auch Niemann sieht Bedarf, einen Teil der Bürokratie abzubauen. Allein die Kassen könnten das indes nicht steuern. Doch zusammensetzen wird sich der VdEK mit dem Klinikum – das wurde beim HAZ-Forum beschlossen.
HAZ-Leser Wolfgang Trebicky machte am Ende einen Vorschlag, für den es viel Applaus im Publikum gab: „Man sollte statt von Fallpauschalen von Menschenpauschalen sprechen.“
Von Juliane Kaune