Wohnungsnot

Paar lebt seit Jahren unter einer Brücke

Elend mitten in Hannover: Ehepaar R. lebt unter einer Brücke.

Elend mitten in Hannover: Ehepaar R. lebt unter einer Brücke.

Hannover. Auf den ersten Blick scheint keiner zuhause zu sein. Niemand sitzt auf dem Sofa, das nach Sperrmüll aussieht, woran auch ein Überwurf nichts ändern kann. Leere Eimer und Plastikkästen stehen herum. Die Kante einer massiven Stahlwand dient als Regal für Tubenwaschmittel, Spülzeug, Tassen. Unten am Fluss, zwei, drei Meter weiter, hängen kopfüber Jeans, T-Shirts und Unterhemden an einer Leine. Eine Trainingshose trägt das Emblem einer Marke, deren Slogan, „Just do it“, die unbegrenzte Freiheit menschlicher Möglichkeiten behauptet.

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Vom wenige Meter entfernten Weg können Spaziergänger vermuten, dass hier am Ufer jemand lebt, es steht ja alles draußen sichtbar unter einer Schräge. Wenn man ein paar Schritte die Böschung runter zum Wasser geht erkennt man eine Öffnung, sie führt in eine Art Höhle. Von dort ist ein Kruscheln zu hören, als würde jemand Ordnung schaffen. Eine junge Frau kommt heraus, und obwohl sie klein und zierlich ist, muss sie sich bücken, um nicht an den Rand dieser Öffnung zu stoßen. Freundlich bietet sie einen Stuhl an und schafft auf dem wackligen Holztisch Platz, auf dem eine Decke etwas Wohnlichkeit vortäuscht.

Hier ist Erika R. zu Hause. Unter einer Brücke mitten in der Stadt lebt die 26 Jahre alte Slowakin gemeinsam mit ihrem Mann Julius. Falls zu Hause das richtige Wort ist, bürgerliche Begriffe taugen kaum, um absolute Armut zu beschreiben. Die Worte sind identisch, sie bekommen nur eine völlig andere Bedeutung. Das Paar lebt und schläft im Freien unter einer Wölbung aus Beton. Auf Steinboden stehen zwei Campingzelte, darin Matratzen, Schlafsack und Decken, ein strapaziertes Stück Auslegeware liegt davor. Es ist kühl und dunkel, aber geschützt vor Regen und Blicken. Wenige Meter über dem Paar fährt die motorisierte Wohlstandsgesellschaft auf asphaltierter Straße in klimatisierten Autos. Unten schützen blaue Plastikplanen den Schlafplatz ein wenig vor dem feuchten Dunst des Wassers. An diesen Ort kommt Erika R. jeden Tag zurück, nachdem sie im Auftrag eines Dienstleistungsunternehmens in Hotels Zimmer und Toiletten geputzt hat.

Wie lange leben sie hier? „Seit fünf Jahren schon“, sagt Erika R. Banale Dinge werden zum Problem. Wasser für die Wäsche müssen sie von Nachbarn einige hundert Meter entfernt holen, dort können sie auch duschen. Eine öffentliche Toilette gibt es nahe der Brücke. Aus einer Propangasflasche kommt Gas für eine Kochplatte, auf einer Kiste steht eine Pfanne. Die Hündin lebt in einer Kiste, manchmal geht Julius mit dem Tier in die City, um zu betteln. Dort, sagt er, müsse er sich anhören, er gehöre zur Bettelmafia, aber das stimme nicht. Es kommt vor, dass Männer zum Pinkeln die Böschung runtergehen, nur ein paar Schritte entfernt von Wäscheleine, Sofa und Schlafplatz. Eine gute Nachricht ist, dass die kleine Tochter in der Slowakei bei den Großeltern lebt statt unter einer Brücke in Hannover.

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Niemand wünscht sich so ein Leben. Erika R. hätte gerne eigene vier Wände, doch wenn sie es auf eigene Faust bei einem Vorstellungstermin versuchen, lehnen Vermieter ab, immer. „Wir haben keine Chance, wir kommen als Obdachlose“, erzählt Erika R. Einmal interessierten sie sich für eine billige Einzimmerwohnung, es war ein Moment der Hoffnung, aber auch daraus wurde nichts. Sie klingt nicht verzweifelt, Erika R. klingt, als hätte sie sich abgefunden mit diesem Leben. In die Slowakei möchte sie dennoch nicht zurück, „da ist es nicht besser“.

Slowakische Staatsbürger sind Bürger der Europäischen Union. Finden sie in Deutschland einen Arbeitsplatz, haben sie im Rahmen der Freizügigkeit uneingeschränktes Bleiberecht und Anspruch auf staatliche Hilfen. Dazu gehört etwa, auch unabhängig von Beschäftigung, Kindergeld und, für unfreiwillig arbeitslos gewordene Menschen, Hartz-IV oder Arbeitslosengeld. Erika R. nimmt diese Hilfen kaum in Anspruch. Weil sie als Putzkraft durch Minijobs zu viel verdient, verlor sie den Anspruch auf Sozialhilfe. Und weil das Paar unter der Brücke lebt und keine Miete zahlt, bekommt es kein Wohngeld. Einzige finanzielle Hilfe ist das Kindergeld, das in die Slowakei überwiesen wird. Über ihren Arbeitgeber ist Erika R. krankenversichert, wie jeder EU-Bürger.

Die Geschichte des Paares ist bei der Stadt bekannt. Sozialarbeiter versuchen, bei der Wohnungssuche auf dem freien Markt zu vermitteln. Aber was Erika R. berichtet, wissen auch die kommunalen Mitarbeiter. Im Rathaus heißt es, es sei für Obdachlose „extrem schwierig“, eine Wohnung zu finden. Und für Sozialwohnungen sei der Andrang groß: „Die Zahl der registrierten Bewerber ist derzeit weitaus höher als die Zahl der frei werdenden Belegrechtswohnungen. Die Wartezeit bis zur Vermittlung ist deshalb sehr lang.“ Es bleiben Hilfen bei Behördengängen, Hinweise auf knappe Notunterkünfte bei Gefahr für Leib und Leben und Kontakte zur Koordinierungsstelle Osteuropa.

Doch ein Dach über dem Kopf, mit vier Wänden drumherum und einer Heizung bleibt das Wichtigste für ein Leben, das mehr wäre als Überleben. Bald beginnen die kalten Tage und frostigen Nächte.

Von Gunnar Menkens

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