Zoo verzichtet vorerst auf Wolfsnachwuchs
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Das Wolfsrudel erkundet sein deutlich vergrößertes Revier.
© Quelle: Steiner
Hannover. Die fünf Junggesellen haben ein gutes Zeitgefühl. Es ist Viertel vor elf, um elf Uhr soll die Fütterung beginnen. Also machen sie vorab schon mal mit lautem Geheul auf sich aufmerksam. So sitzen Hagrid, Fluffy, Jack, Scarface und Rudelchef Bernie an diesem grauen Morgen auf einer Anhöhe ihres Geheges und heulen wie eine Feuerwehrsirene. Um elf gibt es zwar nur ein paar Fische und etwas Gulasch, aber als Abwechslung ist die Zwischenmahlzeit sehr willkommen. Anschließend durchstreifen sie wieder ihr deutlich vergrößertes Terrain am Rande von Yukon Bay, das ihnen seit Kurzem ganz neue Ausblicke erlaubt. Im südlichen Teil des Geheges, in dem vormals die Wölfin Akira mit ihrem Partner lebte, wohnen nebenan die Bisons. Wenn sich deren Nachwuchs kabbelt, schauen die fünf Wölfe so interessiert hinüber, als laufe da ein Kinofilm.
Seit dem Tod der zwölf Jahre alten Timberwölfin Akira, die in der Silvesternacht von ihrem Gefährten Peter totgebissen worden war, will der hannoversche Zoo zunächst in Ruhe überlegen, wie es bei den Timberwölfen weitergehen soll. Akiras Partner Peter war in der vorigen Woche an einen französischen Zoo abgegeben worden. Ein neues Paar zum Aufbau eines zweiten Rudels soll einstweilen nicht angeschafft werden. Glück für Bernie und sein Rudel: Die fünf müssen das Gehege auf absehbare Zeit mit niemandem teilen. „Zwar möchten wir irgendwann auch wieder kleine Wölfe zeigen, aber dafür lassen wir uns Zeit“, sagt der Zoologische Leiter Heiner Engel. „Denn wenn wir für Nachwuchs sorgen, muss vorher auch geklärt werden, welcher Tierpark uns die ausgewachsenen Tiere später abnimmt.“
Schwere Vorwürfe an der Wolfshaltung des hannoverschen Zoos erhebt unterdessen Michael Schmiedel, Geschäftsführer der in Thüringen ansässigen Stiftung für Bären. Sie betreibt den alternativen Bärenpark Worbis, wo Akira 1999 geboren wurde, sowie den Wolfs- und Bärenpark bei Freudenstadt im Schwarzwald. In Worbis teilen sich zurzeit fünf Wölfe und zehn Bären ein fünf Hektar großes Areal, im Schwarzwald leben auf zehn Hektar Fläche drei Wölfe und sechs Bären. Alle Tiere stammen aus problematischer Haltung, unter anderem aus Zirkussen. „In Yukon Bay sollte nicht mehr gezüchtet werden, weil die Anlage dafür viel zu klein ist“, sagt der Wildtierexperte. Sie sei groß genug für maximal fünf Wölfe. Vor allem rangniedere Tiere hätten nach Auseinandersetzungen keine Chance, sich vom Rudel abzusondern, wie das in der Natur möglich sei. Außerdem fehlten den Tieren Beschäftigungsmöglichkeiten.
Das weist Heiner Engel zurück. Mit 1287 Quadratmetern Fläche entspreche die Anlage den tierschutzrechtlichen Anforderungen, die vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz genehmigt wurden. Die in Niedersachsen geforderten 400 Quadratmeter für ein Wolfspaar plus 20 Quadratmeter für jeden weiteren Wolf würden deutlich überschritten. Den Tieren stünden zwei Schlafhöhlen, zwei Unterstände, Büsche, Bäume, ein Wasserbecken und Heizmatten im Gehege zur Verfügung. Von dort können sie auch Bisons, Karibus und Puten sehen.
Auch Hannovers leitende Amtsveterinärin, Gabriele Doil, kann an der Haltung der Wölfe nichts aussetzen. „Das Konzept der dreigeteilten Anlage ist geeignet, die tierschutzrechtlichen Forderungen zur artgerechten Beschäftigung der Tiere zu erfüllen“, erklärt die Tierärztin. Das Gelände sei strukturiert und biete Rückzugsmöglichkeiten.
„Unsere Aufgabe ist es, den Menschen Wölfe nahezubringen. Voraussetzung dafür ist, dass unsere Besucher die Tiere auch sehen können“, sagt Engel. Im Bärenpark Worbis bekämen Besucher die Tiere mit Sicherheit nicht immer zu Gesicht. Dessen Zielsetzung und Aufgaben wiederum seien schließlich auch andere als die eines Zoos. Den tragischen Tod Akiras betrachtet Engel als Unglücksfall: „Wölfe beißen sich oft, so ein tödlicher Unfall kann leider immer passieren.“ Wolf Peter hatte Wölfin Akira in den Brustkorb gebissen. Dabei verletzte er laut Obduktionsbericht die Lunge, die dadurch sofort in sich zusammenfiel.
„Wölfe haben es in sich“, umschreibt Prof. Michael Böer, Zoologischer Direktor im Serengeti-Park Hodenhagen und bis 1995 Tierarzt im Zoo Hannover, die komplizierte Haltung von Wölfen in Zoos. In jedem Wolf stecke eine gehörige Portion Aggression. „Deshalb zählt das Wolfsmanagement zu den schwierigsten Aufgaben der Tiergärtnerei“, sagt Böer. Wichtig sei, dass den sogenannten Prügelknaben, die es in jedem Rudel gebe, Deckungsmöglichkeiten oder ein Ersatzgehege zur Verfügung stehe, wenn es zu ernsten Beißereien komme.
Die Frage, ob der Zoo weiter züchten sollte oder besser nicht, ist laut Böer nicht einfach zu beantworten. „Zoos sind nicht nur verpflichtet, die Erkrankungen der Tiere im Griff zu halten, sondern ihnen auch ein vielseitiges Verhaltensrepertoire zu bieten. Da gehört die Fortpflanzung nun einmal dazu“, sagt Böer, der an der Tierärztlichen Hochschule Hannover Vorlesungen in Tiergartenbiologie und Zootiermedizin hält. Für die Wölfe, die in engen Sozialverbänden lebten, sei die Aufzucht von Nachwuchs eine wichtige Erfahrung. Die Unterbringung der ausgewachsenen Tiere jedoch gestalte sich oft schwierig, weil viele Zoos selbst genügend Nachwuchs hätten.
Für Deutschlands bekannteste Wolfsexpertin, Gesa Kluth, sind die Beißereien der Wölfe in Zoos nichts Ungewöhnliches. „In der Natur geht es in Wolfsrudeln viel entspannter zu“, berichtet die Biologin, die in der Oberlausitz das wildbiologische Büro „Lupus“ zum Schutz der frei lebenden Wölfe betreibt. Bei Auseinandersetzungen hätten die Tiere die Möglichkeit, sich von ihrem Rudel zu trennen. Das könnten sie in Zoos nicht. Und Konstellationen wie Rudel mit fünf erwachsenen Wölfen gebe es in der Natur auch nicht. „Diese Tiere wandern im Alter von ein bis zwei Jahren ab und versuchen, eine neue Familie, ein neues Rudel zu gründen.“
Hagrid, Fluffy, Jack, Scarface und Bernie wissen von all dem nichts. Die fünf Brüder wurden im Zoo Hannover geboren, sie kennen nichts anderes als ihr Gehege. Das Rudel gilt als stabil: Bernie ist der Chef, Scarface steht in der Rangfolge ganz unten. „Aber damit kommt er gut zurecht“, sagt Engel.
Zwei tödliche Zwischenfälle
Akiras Tod am Silvestertag war nicht der erste tödliche Zwischenfall im Wolfsgehege von Yukon Bay. Am 11. August 2010 unterlag Akiras damaliger Partner Papesto im Kampf mit Akiras fünf erwachsenen Söhnen und wurde totgebissen. Auch Akira wurde damals angegriffen und verletzt.
Zu dem tödlichen Zusammentreffen der zwei Rudel hatte es kommen können, weil ein Tierpfleger vergessen hatte, das trennende Schiebegatter zwischen den Gehegen zu schließen. Im nördlichen Teil des Geheges waren bislang die fünf ausgewachsenen Söhne Akiras untergebracht, im Süden lebten die Wölfin und ihr Partner. Der mittlere Bereich wurde von beiden Rudeln jeweils abwechselnd genutzt.
Zurzeit bewohnen die fünf Junggesellen das komplette Gehege allein. Timberwölfin Akira, 1999 geboren im Bärenpark Worbis, und ihr damaliger Gefährte Lakota kamen 2005 zusammen aus dem Tierpark Nordhorn nach Hannover. Hannover wollte die Timberwölfe aufgrund der geplanten Alaskalandschaft anschaffen, die beiden Europäischen Wölfe Adele und Peter wurden im Gegenzug an den Nordhorner Tierpark abgegeben. Den Nordhornern waren die Timberwölfe nach Angaben von Zoosprecherin Simone Hagenmeyer „zu laut“ – weil sie oft und lautstark heulen.
Akira und Lakota hatten zweimal Nachwuchs: Im Mai 2006 kamen Hagrid, Fluffy und Bernie zur Welt, ein Jahr später Jack und Scarface. Diese fünf bilden heute das Fünferrudel mit Bernie als Leitwolf. Im März 2009 starb Lakota, Vater der fünf Rüden, nach einer Operation. Im August desselben Jahres bekam Akira als neuen Partner Papesto an die Seite, der aus einem französischen Zoo nach Hannover kam. Er starb am 11. August 2010 an den Folgen des Kampfes mit Akiras Söhnen. Wolf Peter, der in der Silvesternacht Wölfin Akira totbiss, wurde im Mai 2009 im Naturpark Kellerwald am Edersee geboren und lebte seit Oktober 2010 mit Akira zusammen.