Zusammenleben ohne Augenlicht
Das Wohnzimmer ist geschmackvoll eingerichtet, es gibt eine Sitzecke mit Sesseln, Sofa und ein Fernsehgerät. Nebenan ist der Kaffeetisch gedeckt. Auf den ersten Blick deutet in der Wohnung nichts darauf hin, dass hier vier blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen leben. Die Wohnung im Zentrum Kirchrodes ist die erste Blinden-Wohngemeinschaft in Niedersachsen. Und sie soll nicht die einzige bleiben. Die gemeinnützige ProSenis GmbH, eine hundertprozentige Tochter des Blinden- und Sehbehindertenverbands Niedersachsen (BVN), plant, in den nächsten eineinhalb Jahren fünf bis zehn weitere sogenannte Wohntrainingsgruppen in Hannover einzurichten.
Anfang Dezember sind die Bewohner, zwei Frauen und zwei Männer im Alter von 18 bis 22 Jahren, in die zweite Etage eines Mietshauses in der Tiergartenstraße eingezogen. Unterstützung erhalten die berufstätigen jungen Leute von der Heilerziehungspflegerin und Projektleiterin Katja Pietsch sowie vier weiteren Betreuern. Etwa beim Einkaufen, beim Zubereiten der Mahlzeiten, bei Behördengängen, Arztbesuchen und bei der Freizeitgestaltung – täglich vier bis fünf Stunden.
„Man hat hier viel mehr Freiheiten“, sagt der 18-jährige Andre Hausotte, der als Korb- und Rahmenflechter bei den Hannoverschen Werkstätten arbeitet. Wie seine drei Mitbewohner lebte er vorher im Wohnheim für Blinde. Der 21-jährigen Elisabeth Engelhardt, die als Bürokraft beschäftigt ist, gefällt vor allem, sich nicht mehr an festgelegte Mahlzeiten wie im Heim halten zu müssen: „Hier können wir essen, was wir wollen und wann wir wollen.“
Im Haushalt erleichtern verschiedene Hilfsmittel den Alltag: Die Küchenschränke sind für Sehende nahezu unsichtbar mit transparenten Zeilen in Blindenschaft versehen, damit jeder Bewohner weiß, was sich darin befindet. Elektrogeräte wie Herd, Mikrowelle und Waschmaschine haben Markierungspunkte. Es gibt eine sprechende Personen- sowie eine Küchenwaage, den Al-Dente-Kocher für Nudeln, der ebenso anfängt zu piepen wie die elektronische Einschenkhilfe, die sich meldet, wenn der Kaffeebecher voll ist.
Die Gruppe geht leidenschaftlich gern ins Kino, schwimmen, besucht die Spiele von Hannover 96 oder den UBC Tigers. Zu Hause wird gemeinsam ferngesehen, „weil es den Tatort nun mal nicht im Radio gibt“, wie Volker Biewald, Geschäftsführer von ProSenis, schmunzelnd anmerkt. Und jeder Bewohner besitzt einen Computer, der mit einem Zusatzgerät, der sogenannte Braillezeile, auch von Blinden benutzt werden kann. „Der Betreuungsaufwand ist bereits geringer geworden“, sagt Katja Pietsch. „Das Zusammenleben in der Gruppe ermöglicht den Bewohnern viel intensivere Lernprozesse in allen Bereichen des Lebens, als es im Wohnheim möglich wäre.“ Nach Angaben von Volker Biewald können zwar nicht alle blinden und sehbehinderten Menschen ein eigenständiges Leben führen, vor allem dann nicht, wenn sie schwer mehrfachbehindert sind. „Aber für viele ist der inklusive Weg möglich. Da sind Wohngruppen wie diese der erste Schritt in die Selbstständigkeit.“