Zustände in der City: Stadt will nicht mehr wegsehen
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EY4QXC7XRWBIUBZEKLCPU3KIJM.jpg)
Anwohner vom Weißekreuzplatz beschweren sich aufgrund der steigenden Anzahl von Obdachlosen.
© Quelle: Katrin Kutter
Hannover. Ausgiebig machten Bürger am Montagabend im Volkshochschul-Gebäude Burgstraße ihrem Herzen Luft. Bekundeten in der zweiten Sondersitzung des Bezirksrats Mitte zum Thema „Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum“, was ihnen stinkt – oft im wahrsten Sinne des Wortes. Die vielen Männer etwa, die zwischen Steintor, Marstall und Altstadt hemmungslos unter freiem Himmel ihr Geschäft verrichten. Die Betreiber der Bars in Scholvin- und Reuterstraße, die den Anwohnern mit ihrer Beschallung per Straßenlautsprecher den Schlaf rauben. Die Dealer, die ihren Drogenhandel mit größter Unverfrorenheit auf offener Straße betreiben. Oder die Obdachlosen, die immer mehr Spielplätze und Grünflächen in der Oststadt okkupieren. Bezirksbürgermeisterin Cornelia Kupsch war gut beraten, den Anliegern in der Sitzung viel Zeit einzuräumen – auch, wenn das Schwerpunktthema dieser Sondersitzung lautete: Handlungsansätze und Maßnahmen der Verwaltung.
Für diese Maßnahmen zeichnete bei der Sitzung – die insgesamt mehr als drei Stunden dauerte – Ordnungsdezernent Axel von der Ohe verantwortlich. Er warb mit Vehemenz um Vertrauen und versicherte, dass die Stadt nicht mehr wegsehe bei den mannigfaltigen Problemen in Hannover. Der neu geschaffene Ordnungsdienst werde bis Mitte Oktober 40 Köpfe zählen, die Zielzahl ist 50. Der Wunsch vieler Politiker und Bürger, diese Mitarbeiter an den Brennpunkten eher bis 24 Uhr statt nur bis 22 Uhr patrouillieren zu lassen, werde ernsthaft geprüft. Und die Arbeit des Ordnungsdienstes, sagte von der Ohe, trage bereits erste Früchte; so würden in den Eingangsbereichen des Hauptbahnhofs wesentlich weniger Obdachlose nächtigen als noch vor Jahresfrist.
Dass die Themen Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit die Bürger elementar beschäftigen, wisse die Stadt spätestens seit der Auswertung der jüngsten Bürgerbefragung, erklärte der Dezernent. In aller Kürze skizzierte er noch einmal die millionenschweren Programme der Stadt, die Hannover attraktiver machen sollen. Dazu zählen im Bereich Sauberkeit die Ausweitung des Kehrmaschineneinsatzes bis 21 Uhr (jährliche Kosten 270.000 Euro), der Einsatz von City-Handreinigern an Nachmittagen (160.000 Euro) oder die Aufstockung des Abfallfahnder-Teams um fünfeinhalb Stellen (450.000 Euro). „Ich erbitte einen Vertrauensvorschuss für unser Programm, wir meinen es ernst“, sagte der 41-Jährige. Doch die oft von Bitterkeit und Wut geprägten Redebeiträge der gut hundert Besucher dürften ihn noch einmal daran erinnert haben, wie viel Porzellan es in Hannover zu kitten gibt – insbesondere im Stadtbezirk Mitte.
Verlagerung der Trinkerszene
Anwohner berichteten, dass die Tätigkeit der Ordnungsdienst-Mitarbeiter bereits Früchte trage – allerdings mit noch unbefriedigendem Ergebnis. So verlagere sich die Szene von Raschplatz und Andreas-Hermes-Platz Richtung Weißekreuzplatz und in die umliegenden Wohnstraßen. Seien die städtischen Mitarbeiter im Anmarsch, gebe es kurzfristig Ruhe, danach gehe das Krakeelen oft von vorne los. Dem Wunsch von Anliegern, die Ordnungskräfte „undercover“ patrouillieren zu lassen, erteilte von der Ohe aber eine Absage: „Es ist Teil des Konzepts, dass diese Mitarbeiter für die Bürger erkennbar und ansprechbar sind.“ Auch die Bettler- und Hausiererszene, ergänzte Martin Prenzler von der City-Gemeinschaft, versetze der Ordnungsdienst bereits „in Unruhe“.
Geschäfte ohne Scham
Menschliche Hinterlassenschaften. Früher seien Männer, die im Freien urinierten, noch verschämt aufgetreten, sagte ein Besucher der Bezirksratssitzung. Heute hätten viele Menschen, insbesondere unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, überhaupt kein Schamgefühl mehr. Eine Geschäftsfrau aus der Schuhstraße (Altstadt) erzählte, dass sie ständig Männer beobachte – oft auch gut gekleidete -, die an die gegenüberliegenden Garagen pinkeln. Ein Café-Betreiber aus der Knochenhauerstraße berichtete, dass Menschen in den Grünflächen rund um Kreuzkirche und Goldener Winkel ihre Notdurft verrichten, auch im Steintorviertel und in der Oststadt empfinden Anwohner das „Wildpinkeln“ von Wildfremden als großes Problem. Spreche man die Übeltäter an, hieß es, drohten diese häufig mit Schlägen. Grünen-Bezirksratsherr Christoph Baathe regte an, das Bußgeld für Urinieren im Straßenraum von 35 auf 500 Euro zu erhöhen, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. „Vergehen und Buße müssen aber in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen“, bremste Axel von der Ohe.
Schlaflose Nächte
Lärm. Etliche Anwohner im Steintorviertel, darunter eine Studentin, eine Angestellte im medizinischen Dienst und ein Akustiker, beklagten die von einzelnen Etablissements ausgehende Musik, die insbesondere an Wochenenden bis in die frühen Morgenstunden durch die schmalen Straßen dröhnt und ihnen den Schlaf raubt. Private Messungen hätten Schallspitzen von bis zu 93 Dezibel ergeben, doppelt so viel wie erlaubt. Die Polizei gehe den diversen Beschwerden und Anzeigen durchaus nach, doch seien die Erfolge meist nur von kurzer Dauer. Von der Ohe wies darauf hin, dass die Stadt unliebsame Bars nicht einfach schließen könne und es in der City auch keine klassische Sperrstunde gebe. Für seine Replik, mehrfache Lärmmessungen der für Schallemissionen zuständigen Region Hannover hätten „keine Auffälligkeiten“ ergeben, erntete der Dezernent allerdings höhnisches Gelächter. Bürgermeisterin Kupsch versprach, einen Vertreter der Region einzuladen, sollte das Thema Lärm noch einmal im Bezirksrat diskutiert werden.
Drogenverstecke sind bekannt
Drogenhandel. Insbesondere im Steintorviertel, so taten Anlieger kund, könne man Tag und Nacht Dealer beim Handeln mit Rauschgift beobachten – man müsse nur aus dem Fenster einer Wohnung schauen. Vielen Anwohnern sind nach eigenem Bekunden die Drogenverstecke der Händler bestens bekannt; auch Prostitution auf offener Straße könne man im Quartier verstärkt beobachten. Mehrere Besucher der Bezirksratssitzung forderten die Einrichtung einer – zumindest kleinen – Polizeiwache am Marstall.
„Es gibt tatsächlich massive Beschwerden im Steintorviertel“, bestätigte Polizeidirektorin Gwendolin von der Osten, Leiterin der Polizeiinspektion Mitte. Und sie versprach: „Wir werden da genauer hingucken.“ Auf die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung der Anwohner und der Kriminalstatistik – die bei vielen Delikten seit 2015 sinkende Zahlen ausweist – machte Dezernent von der Ohe aufmerksam: „Wir haben Schwierigkeiten in Mitte, das ist richtig, aber es wird dem Stadtbezirk nicht gerecht, wenn man sagt, die Situation sei eskaliert.“ Allerdings bekundeten in der Volkshochschule etliche Zuhörer, bei vielen Beobachtungen gar keine Anzeige mehr zu erstatten, weil dies eh zu nichts führe.
Von Michael Zgoll