„Die Bande aus der Baker Street“ – Sherlocks junge Helfer bei Netflix

Fünf, die die Welt retten müssen: Leopold (v. l. Harrison Osterfield), Jessie (Darci Shaw), Beatrice (Thaddea Graham) Spike (McKell David) und Billy (Jojo Macari) sind Netflix' „Bande aus der Baker Street“.

Fünf, die die Welt retten müssen: Leopold (v. l. Harrison Osterfield), Jessie (Darci Shaw), Beatrice (Thaddea Graham) Spike (McKell David) und Billy (Jojo Macari) sind Netflix' „Bande aus der Baker Street“.

Die ruppige Beatrice (Thaddea Graham) und die zarte Jessie (Darci Shaw) sind füreinander da – immer. Zwei Schwestern im Teenageralter, aufgewachsen in Heimen, in denen man eben nicht mit Samthandschuhen angefasst wurde. Die Mutter hatte sie dort abgegeben und verschwand spurlos, ihre Väter kennen die Mädchen nicht. Ihre Familie: Das sind der hartgesottene Billy (Jojo Macari) und der besonnene Spike (McKell David), zwei Straßenjungs im viktorianischen London.

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Bald stößt noch der piekfeine Leopold (Harrison Osterfield) zum Team, der von der Freiheit des Kleeblatts nur träumen kann. Er ist ein Schlossflüchter, ein Harry, der an Hämophilie leidende jüngste Sohn der Königin, der sich unsterblich und unglücklich in Bea (seine Meghan) verlieben wird.

Team? Das Quintett gerät an John Watson, einen furchtbar kalten und abweisenden, hochgradig schnöseligen Arzt und Autor, der zusammen mit seinem von ihm streng abgeschotteten (oder verschollenen?) Freund Sherlock Holmes eine kleine Detektei unterhält und sich von der „Bande aus der Baker Street“ Augen und Ohren in den ihnen unzugänglichen Vierteln von London verspricht. Gegen „fürstliche Entlohnung“ sollen sie für die Herren aus Haus Nummer 221B zunächst nach vier aus verschlossenen Zimmern entführten Neugeborenen fahnden. Unter einem Kinderbettchen wurde eine Kolkrabenfeder gefunden. „Corvus Corax gibt es nicht in London“, weiß der gebildete Leo. Die Spur führt in den Zoo – der Anfang einer großen, geradezu allumfassenden Geschichte.

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Die Sherlock-Jugendserie fehlte noch im viktorianischen Sammelsurium

Drehbuchautor Tom Bidwell („Unten am Fluss“) hat den literarischen Kosmos von Sir Arthur Conan Doyle betreten, in dem in den letzten zwölf Jahren ordentlich Getümmel herrschte. Der große Deduktionskünstler Sherlock boomt, seit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman das alte Kultduo für die BBC ins Gegenwartslondon zogen und praktisch gleichzeitig Robert Downey Jr. und Jude Law auf der Leinwand viktorianisch herumsherlockten.

Lucy Liu war in den sieben Jahren der Serie „Elementary“ ein weiblicher Watson in New York, Millie Bobby Brown spielte im Vorjahr für Netflix im Spielfilm „Enola Holmes“ – Sherlocks nicht minder clevere Schwester. Und nun also fällt das Scheinwerferlicht auf die „Irregulars“ (Originaltitel der Serie), die Straßenkinder oder „small street arabs“, die bei Doyle in zwei Romanen und einer Kurzgeschichte als Helfershelfer auftauchten. Das macht „Die Bande aus der Baker Street“ zur ersten Sherlock-Jugendserie. Die hat noch gefehlt.

Die Bilder sind heftig in diesen Stranger Victorian Things

Freilich ist sie nichts für muckelige Sonntagvormittage. Denn schon bald stellt sich heraus, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht in der Stadt. Jessies Albträume und Visionen von einem Mann mit der schwarzen Schnabelmaske eines Pestdoktors und von einem schwarzen Amerikaner in weißem Leinenanzug, der von einem „Riss in der Welt“ erzählt, und dass „die Grenze zwischen dieser und der nächsten Welt einstürzen“ wird, ragen immer mehr in die Wirklichkeit hinein. Durch die nächtlichen Gassen Londons scheint eine brutale Zahnfee zu huschen, Gestaltenwandler und andere unheilvollen Gestalten tauchen auf. An der Themse ist der Teufel und noch viel, viel mehr los.

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Stranger Victorian Things könnte diese Serie auch heißen und die Bilder sind durchaus „explizit“. 1963 war der der Anblick eines Farmers mit ausgehackten Augen für einen Sekundenbruchteil gräulicher Höhepunkt von Hitchcocks „Die Vögel“. In „Die Bande aus der Baker Street“ ist ein Leichnam nach dem Angriff eines Rabenschwarms deutlich länger zu sehen. Vermied Jonathan Demme 1989 in „Das Schweigen der Lämmer“, einen Polizisten mit von Hannibal Lecter entfernter Gesichtshaut zu zeigen, so kennen die „Baker Street“-Macher diesbezüglich kein Pardon.

Das Arsenal des Horrorfilms wird reichlich eingesetzt, Bidwells Variante des Frankensteinmonsters ist scheußlicher als es Boris Karloff oder Robert De Niro waren. Und es wird freudig zitiert – so heißt, als eine Dracula-ähnliche Gestalt in London eintrifft, der Arzt einer Heilanstalt nicht von ungefähr wie dessen Faktotum – Renfield.

Mycroft Holmes legt viktorianische X-Akten an

Im allgemeinen Getöse des Pandämoniums kommen nach und nach allerhand private Geheimnisse ans Tageslicht. Jeder hat Abgründe in sich, niemand ist, wer er zu sein scheint. Und schon gar nicht sind es die Sidekicks Watson (ist der arrogante Doktor ein Bösewicht?) und Sherlock (wo soll man anfangen?). Holmes‘ Bruder Mycroft agiert hier als eine Art Fox Mulder des 19. Jahrhunderts, Leiter einer staatlichen britischen Regierungsbehörde, die am Übernatürlichen forscht und königliche X-Akten anlegt. Nein, für Hardcore-Doylianer ist diese Serie wahrlich nichts. Diese Puristen kriegen ja schon Falten in ihrer Toleranz bei Filmen, in denen Watson das wahre Genie war (Ben Kingsley und Michael Caine 1988 in „Genie und Schnauze“) oder in denen erfolglose Detektivkollegen Holmes und Watson imitieren (Hans Albers und Heinz Rühmann 1937 in „Der Mann, der Sherlock Holmes war“).

Hier ist weder die Sprache ansatzweise viktorianisch, noch ist es die Frisur von Spike. Und immer wieder stören Popsongs wie Billie Eilishs „When The Party’s Over“ oder Agnes Obels „Run Cried The Crawling“, das als tanzendes Lied von Protagonist zu Protagonist springt (wie in Paul Thomas Andersons „Magnolia“) - die Illusion eines schlüssigen Gestern.

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Historisch authentisch? Hauptsache unterhaltsam!

Historizität wird von Bidwell überhaupt nicht erst angestrebt. Die Figur Holmes, deren Geburtsjahr mit 1854 angegeben wird, ist hier ein Mann in seinen Vierzigern. Der historische Prinz Leopold, Duke of Albany, der hier in Teenagerjahren auftritt, wurde 1853 geboren und starb 1884 an den Folgen seiner Bluterkrankheit nach einem Sturz vom Pferd – also als die Sherlockiaden erst richtig losgingen.

Zudem liegen in „Die Bande aus der Baker Street“ die größten Erfolge von Sherlock und Watson schon 15 Jahre zurück. Alle Zeitangaben am besten auf ein Blatt Papier schreiben, einen Flieger daraus basteln und zum Fenster rauswerfen.

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Trotz des leicht nach Kunststoff riechenden Ambientes der Pestgruben und der blau gleißenden Weltengrenze ist dieser Genremix recht unterhaltsam, zumal zum jenseitigen Gewese diesseitige Gefühle kommen: Romanzen werden erzählt, Klassengrenzen überwunden, es wird geküsst, geknutscht und – da blendet die Kamera nun doch ab – auch dem Eros gehuldigt. Mehrfach befinden sich drei Herzen in der Happy-End-Maschine.

Und wenn jemand „Ich will dich nie wiedersehen“ sagt, dann kann er das Wiedersehen in Wahrheit kaum erwarten. Und wenn jemand anderes „Ich gehöre nirgendwohin“ sagt, weiß zumindest der Zuschauer ganz genau, an wessen Seite er gehört. „Die Bande aus der Baker Street“ ist ein Coming-of-Age-Drama, das in einem Coming-of-Evil-Horror steckt und weil von Letzterem der Nachschub nie ausgeht, ist die zweite Staffel so gut wie sicher.

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