Erinnerung an den 9. November

Die deutsche Einheit in den Medien: Das Staunen der ganzen Welt

Alles ein wenig gemächlicher: Ein Kamerateam des ZDF filmt bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990.

Alles ein wenig gemächlicher: Ein Kamerateam des ZDF filmt bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990.

Es ist Nacht in Berlin, aber niemand schläft. An der Mauer brennt ein Lagerfeuer, aus dem Kofferraum eines Autos dröhnt „The Wall“ von Pink Floyd. Vor drei Tagen hat Günter Schabowski mit seinem Nuschelsatz aus Versehen das Schicksal der Mauer besiegelt. Und nun steht die Weltpresse am Brandenburger Tor und wartet. Man hat große Gerüste errichtet für die Kameras von NBC und CNN. Generatoren versorgen die Sendemasten mit Strom. Auf keinen Fall wollen die Reporter den Moment verpassen, wenn auch das Tor, das Symbol des Eisernen Vorhangs, sich öffnet.

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Die Welt staunt über Deutschland. Und sie staunt analog. Kein Facebook. Kein Twitter. 20 Jahre sind es noch bis zum ersten Insta­gram-Selfie. Es ist nicht mehr ganz die mediale Steinzeit, aber doch noch die mediale Antike. Außer Radio und Fernsehen gibt es kein Echtzeitmedium. Schwere Kameras und Reporter im Trenchcoat am Festnetztelefon sind es, die die Nachrichten von der friedlichen Revolution in die Welt tragen.

Fußball ist wichtiger als der Fall der Mauer

Es sind Männer wie Robin Lautenbach, damals ARD-Korrespondent des Senders Freies Berlin. Am 9. November 1989 steht er im Westen am Grenzübergang Invalidenstraße. Am nächsten Morgen, so hieß es, würden sich die Grenzen öffnen. Um 8 Uhr. Lautenbach soll schon mal „die Stimmung einfangen“. Aber er muss warten, die „Tagesthemen“ haben Verspätung, es läuft Fußball. Kaiserslautern gegen Köln ist wichtiger als der Fall der Berliner Mauer.

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Dreieinhalb Stunden ist es her, dass die konfuse Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum der DDR in der Mohrenstraße 36/37 in Ost-Berlin zu Ende ging. Riccardo Ehrman von der italienischen Nachrichtenagentur Ansa hatte sich 53 Minuten lang Schabowskis Nebelbombensätze angehört, diese „Parteitagsscheiße“, wie der „Bild“-Reporter Peter Brinkmann das nennen wird. Dann hat Ehrmann nach dem neuen Reisegesetz gefragt. Konfusion. Zettelwühlerei. Brinkmann fragt nach dem Zeitpunkt. Es folgt Schabowskis berühmter Holpersatz: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“

Tatsächlich soll die neue Reiseregelung erst am nächsten Morgen in Kraft treten – wohlgeordnet, mit Stempel im Pass. Aber die Bürokratie der DDR-Apparatschiks versagt ein letztes Mal. Die Freiheit nimmt ihren Lauf. Ehrmann habe den Ball auf den Elfmeterpunkt gelegt, Brinkmann habe ihn reingeschossen, wird Schabowski später schreiben. Und Egon Krenz wird genervt fragen: „Kann ich ahnen, dass der Schabowski sich das Ding nicht mal durchliest?“

„Tagesthemen“-Moderator Hanns Joachim Friedrichs schafft Fakten

19.01 Uhr. Die Weltpresse ist verwirrt. Ausreise? Und die Mauer? Associated Press (ap) verwendet um 19.05 Uhr das Wort „Grenzöffnung“. Ansa meldet um 19.31 Uhr den Fall der Mauer, um 19.41 Uhr folgt die Deutsche Presse-Agentur (dpa). Im ZDF kommt Schabowski erst als sechste Nachricht. In der „Tagesschau“ aber heißt es: „DDR öffnet Grenze.“ Das „heute journal” im ZDF meldet um 21.45 Uhr, dass die Regelung aber nur für Ausreisewillige gelte.

Lautenbach bekommt von all dem wenig mit. Er hört auch nicht, wie „Tagesthemen“-Moderator Hanns Joachim Friedrichs gegen 23 Uhr Fakten schafft mit seinem Satz: „Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“ Es besteht kein Zweifel daran, dass auch die forsche Interpretation westlicher Medien die Grenzöffnung beschleunigt hat.

Als er live auf dem Sender ist, beginnt Lautenbach einfach zu sprechen, mit dem blauen SFB-Mikrofon in der Hand, hinter ihm, von der Mauer halb verdeckt, das Brandenburger Tor: „Vor 28 Jahren und knapp drei Monaten wurde die Mauer erbaut“, sagt er. „Sie wurde zum Symbol der Teilung Deutschlands und des Kalten Krieges. Spätestens seit heute Abend ist dieses Bauwerk nur noch ein Baudenkmal.“

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„Es war ein großartiges Glücksgefühl“

Reporterpech: Der Grenzübergang Invalidenstraße wird sich erst nach Sendungsende öffnen. Reporterglück: Zwei Taxifahrer erzählten Lautenbach, dass am Grenzübergang Bornholmer Straße 50 oder 60 DDR-Bürger vor Freude weinend im Westen angekommen seien. „Da war ich schon ein bisschen sauer”, erzählte er 30 Jahre danach in einem ARD-Interview. „Aber das war nicht wichtig. Es war ein großartiges Glücksgefühl.” Lautenbachs Reportage war der einzige deutsche Livebericht vom Mauerfall (wenn man die Liveübertragung von Schabowskis Pressekonferenz im DDR-Fernsehen nicht mitzählt). Er schuf endgültig Fakten: Hunderte DDR-Bürger strömten gegen Mitternacht zu den Grenzen. „Es war im Fernsehen, es musste wahr sein”, sagt eine Zuschauerin von damals.

Kaum vorstellbar, in welchem Tempo die Nachricht von der Maueröffnung heute um die Welt schösse. Mit Live-Broadcasts auf Hunderttausenden Smartphones, mit Echtzeit-Newstickern auf allen Kontinenten. Am 9. November 1989 hatte der junge US-Nachrichtensender CNN immerhin Telefonkontakt ins Herz der Geschichte: Korrespondent Doug James sprach von einem „symbolischen Vorschlaghammer”, mit dem die DDR-Führung die Mauer zerschlagen habe. CNN sendete über eine Breitbandantenne auf dem Dach der US-Botschaft in West-Berlin. Und am 3. Oktober 1990 zeigte der Sender um 20.30 Uhr New Yorker Zeit eine gemeinsame Sondersendung mit der Deutschen Welle. Sie dauerte 30 Minuten. So war das vor der Erfindung des „24/7 Live Reporting“.

Reporter aus dem Ostblock blickten mit Neid auf ihre Westkollegen, die ohne Zensur berichten konnten. „Sie waren frei”, erinnert sich der ungarische Radioreporter Ivan Bedo in einer TV-Doku – er nicht. Und das, obwohl „die Euphorie dieser Zeit uns alle mitriss”.

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Und in der DDR? Zwar blendete die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ in der Nacht wiederholt die Aufzeichnung der Pressekonferenz mit der Nachricht von der Grenzöffnung ins laufende Programm ein. Doch das Parteiorgan „Neues Deutschland” machte am 10. November 1989 mit der Schlagzeile auf: „Vor der 10. Tagung des Zentralkomitees: 4. Parteikonferenz der SED für den 15. bis 17. Dezember 1989 einberufen.” Bilder aus Berlin? Keine. Das Problem war nicht nur politischer Natur: Es fehlt schlicht eine offizielle Meldung der DDR-Nachrichtenagentur ADN. Beim DDR-Fernsehen wagten die Journalisten etwas Ungeheuerliches: Sie schreiben sich ihre Nachricht selbst, denn von den 1400 ADN-Kollegen kam an diesem Abend: nichts. Peter Heimann, ein junger ADN-Nachrichtenredakteur, sah Schabowskis Fauxpas im Fernsehen und fuhr spontan in die Redaktion, berichtete der Deutschlandfunk. Aber da gab es nichts zu tun: „Heimann sah gerade noch den letzten Diensthabenden das Tor absperren, mit der Bemerkung: ‚Das ist alles ungesetzlich …’”

Am 11. November schließlich zeigte das „Neue Deutschland” ein winziges Foto aus Ost-Berlin mit der Unterschrift: „Viel Verkehr an den Grenzübergängen” – und behauptete, die Menge dort jubele für SED-Chef Egon Krenz.

Im Westen schwoll die Berichterstattung massiv an. Allein in den zehn Tagen nach dem Mauerfall liefen 128 Sondersendungen in ARD und ZDF, außerdem 48 bei RTL und SAT.1. Großflächig debattiert die Weltpresse die Frage, was ein vereintes Deutschland bedeute. „Der Kopf ist für eine deutsche Einheit – der Bauch ist dagegen”, hieß es im März 1990 in einem Leitartikel der französischen Zeitung „Le Monde”. „Das Wort ‚Deutschland’ taugt nicht mehr zur Erzeugung von Ängsten”, fand dagegen „Le Figaro”. „Le Monde” warnte schon 1990, dass sich „unter der marxistisch-leninistischen Oberfläche in Ostdeutschland ein Nationalismus konserviert haben könnte, aus dem eine Ablehnung der EU erwachsen” könne.

Internationale Presse berichtet

In Israel ist die Skepsis groß. Die „Jerusalem Post” zitiert schon am Vorabend des Mauerfalls den in Berlin geborenen Bonner Botschafter Israels mit den Worten: „Niemandem in Europa oder sonst irgendwo behagt die Aussicht auf ein Viertes Reich mit 75 Millionen Deutschen.” Aber die Maueröffnung feiert die „Post” dann doch als Ende eines „Symbols russischer Tyrannei”. Gleichwohl sei „ein gefährlicher Geist aus der deutschen Flasche gelassen” worden. Die konservative Zeitung „Maariv” sorgte sich in einem Leitartikel am 9. November 1989: „Im Herzen Europas wird wieder eine Großmacht entstehen. Das reicht, um bei allen Juden ein Schaudern auszulösen.” Und am Einheitstag, dem 3. Oktober 1990, titelt die „Jerusalem Post”: „78 Million Germans Hail New and United Beginning”, worin wohl nicht zufällig warnend das Wort „Hail“ (Heil) enthalten ist. In der „New York Times” dagegen heißt es am selben Tag: „Deutschland vereinigt sich nach 45 Jahren mit Jubel und einem Gelübde des Friedens.”

Die deutsche Einheit war eine Revolution – und eines der größten Medienereignisse des 20. Jahrhunderts. Studien zeigen, dass sich in der Erinnerung Fernsehbilder und Selbsterlebtes zu einem Amalgam vermischen, das sich für jeden Einzelnen authentisch anfühlt. Sicher ist, was 2005 der damalige Bundespräsident Horst Köhler schrieb: „Es hat nicht nur in der Zeitung gestanden”, schrieb er. „Es sind unsere Jahre.”

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